Eine Verankerung in der Grundversorgung ist dringend geboten, da bis anhin weite Bevölkerungsgruppen aufgrund mangelnder finanzieller Mittel keine Psychotherapie in Anspruch nehmen konnte und auf die «billigere Lösung» einer Psychomedikation verwiesen wurde. Hier wäre allenfalls noch die beeindruckende Mengenausweitung der Psychopharmaka in Europa zu erwähnen. Ohne die Psychomedikation verteufeln zu wollen, scheint nach den letzten Publikationen [1] zumindest bei den Antidepressiva eine Wirksamkeit in Frage gestellt. Nicht bestritten ist, dass bei allen psychischen Störungen, selbst wenn eine Psychomedikation erfolgt, eine begleitende Psychotherapie empfohlen wird und Publikationen zeigen, dass die Kombination jedenfalls bessere Resultate erzielt. Die gegenwärtige Annahme, dass Antidepressiva allenfalls bei schweren Depressionen wirken ist seit 2008 bekannt [2]. Diese Erkenntnis verlangt gerade zu, dass Psychotherapie niederschwelliger angeboten werden muss. Betrachtet man das Krankheitsgeschehen von einem sozioökonomischen Standpunkt aus, dann hat das untere Drittel auf der sozioökonomischen Leiter ein dreifach höheres Risiko eine psychische Krankheit zu erleiden, als das oberste Drittel [3]. Bedingt durch die Kumulation der Probleme, wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit kommt es zu Schwierigkeiten in anderen Bereichen wie fehlende finanzielle Mittel, die dann zu einem psychischen Druck führen, der dann oft in eine psychische Störung führt. Jeder Case Manager einer beliebigen Krankenkasse kann ein Lied davon singen. Deshalb ist auch das ins Feld führen des «biospsychosozialen Modells» mit der Betonung auf «bio» fehl am Platz. Die sozialen Komponenten psychischer Erkrankungen werden ganz grundsätzlich unterschätzt. Die Diskussion um die Entstehung psychischer Erkrankungen flammt in diesem Zusammenhang immer wieder auf. Die Annahme, dass es sich um «Hirnerkrankungen» handelt, wird vorab von den «Biologisten» favorisiert. Im Zeitalter des Gehirns herrscht der Glaube vor, wenn wir verstehen, wie das neuronale Netz arbeitet und Reize verarbeitet, die einzelnen Funktionen des Gehirns beschreiben können und die Neuromodulatoren und Neurotransmitter verstanden haben, dann lassen sich «Entgleisungen» also das nicht «normierte Hirn», schlussendlich als Stoffwechsel Problem behandeln. Dann müssen nur noch die dementsprechenden Substanzen, sei es als Nahrungssubstrat, sei es als Psychopharmakon bereit gestellt werden und alles kommt wieder ins Lot. Hier fallen Gehirnfunktionen und Psyche zusammen. Mein Hirn sagt mir, wer ich bin. Wohltuend in diesem Zusammenhang war das Interview mit Prof. D. Zullino im Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapie: Brauchen wir eine neue Psychiatrie-Re-Evoluation? [4] Herr Zullino kommt in diesem Interview zum Schluss, dass es «einen relativen Stillstand» in der aktuellen Psychiatrie gäbe. Zwar sei das neurobiologische Wissen exponentiell gewachsen, aber zu einer Umwälzung in der Psychiatrie habe es nicht geführt. Er plädiert für eine Öffnung der Psychiatrie und der Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen. Da wäre auch noch ein Zitat von Dürrenmatt ins Feld zu führen. Was alle angeht, können nur alle lösen. Die Zentrierung auf die «Medikalisierung» sozialer und psychischer Probleme wird ja des Öfteren beklagt. Die Technikerkrankenkasse aus der BRD schrieb in einer Publikation «Sind wir heute anders krank?» Ja wir sind anders krank [5]. Es gibt kaum ein Krankheitsgeschehen das nicht auch unter dem Aspekt psychischer Beeinträchtigungen gesehen werden muss. Vielleicht lässt sich das bio-psycho soziale Modell einmal umformulieren in ein sozio psycho biologisches Modell. Das Ausspielen von tatsächlich psychisch Kranken und vermeintlich psychisch Kranken ist auf diesem Hintergrund kaum nachvollziehbar.