Ein Schnuppertag

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18276
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(46):1558

Affiliations
Prof. Dr. med. et lic. phil., Mitglied der Redaktion Medizingeschichte

Publiziert am 13.11.2019

Es ist Punkt 7 Uhr morgens. Ich steige aus dem Tram, überquere die Strasse und klingle im Parterre eines modernen Hochhauses. Sogleich erscheint Hausarzt A. Herzlich empfängt er mich und bietet Kaffee an. Wir haben für heute einen Schnuppertag in seiner ­Praxis vereinbart. Nach zwei Jahrzehnten ohne medizinische Praxis möchte ich als Zaungast einen Einblick in die Tätigkeit eines Hausarztes wagen.
Die Praxis läuft gut, eigentlich viel zu gut. Wie bei ­anderen Grundversorgern sind auch in dieser Praxis die Termine Monate im Voraus ausgebucht. A. kann auch niemand Neuen mehr annehmen. Im Viertelstundentakt behandelt er stets zwei Patientinnen oder Patienten parallel in den beiden Behandlungsräumen, während die MPA Aufnahmen und Labor übernehmen. Bald ist der Wartesaal bis auf den letzten Platz gefüllt.
Vitaminmangel, Nachkontrolle nach Tumorbehandlung, eine unklare Beinschwellung, ein verstopfter ­Gehörgang bei einer ängstlichen, dementen Dame, Herzbeschwerden, diverse Infektionskrankheiten und zugehörige Arztzeugnisse, Hautausschläge, akute Bauchschmerzen, ein kleiner chirurgischer Eingriff. Schliesslich noch ein Notfall, ein anaphylaktischer Schock nach einer Injektion.
Der Vormittag ist längst um, da wage ich zu fragen, ob wir nicht etwas essen wollen. «Wir nehmen schnell was im Labor zu uns», meint A. Ich bestehe auf eine Mittagspause ausserhalb der Praxis, und mir zuliebe essen wir in aller Eile im Selbstbedienungsrestaurant, das sich im selben Gebäude befindet. Eine halbe Stunde später sind wir bereits wieder zurück. Und ­weiter geht es mit einer langen Reihe somatischer, psychischer und sozialer Konsultationen. Wir kommen zeitlich in Verzug. Das ist immer so, meint A. Eine Patientin empört sich über die lange Wartezeit und verlässt die Praxis.
Längst haben sich die MPA verabschiedet, als A. ­endlich den letzten Patienten in das Behandlungszimmer bittet. Der verwahrloste Mann hat vor Jahren seine ­Arbeit und dann sein Zuhause verloren, ist ­obdachlos und in einem schlechten Allgemeinzustand. Der Hausarzt untersucht ihn, gibt ihm Vitamintabletten mit und legt ihm fürsorglich die Hand auf die Schulter. Beim Abschied drückt ihm A. eine Hunderternote in die Hand. Dieser Mann komme ­jeden Monat, er habe sonst niemanden auf der Welt, erklärt mir A.
Wir sitzen müde im Labor. A. macht Einträge in den Computer und gibt zu, dass er seine Arbeit aus Zeitgründen oft nur unvollständig abrechnet. Wir wechseln ein paar persönliche Worte. Nein, ein Privatleben habe er eigentlich nicht – nicht mehr. Die Partnerin habe ihn schon vor über einem Jahr verlassen. Seither benötige er regelmässig Psychopharmaka. Seit Jahren sei er auf der Suche nach einer Arztkollegin, die mit ihm gemeinsam die Praxis führen könne. Und nun folgt die Frage an mich, ob nicht ich… Ich hätte doch heute gesehen, wie spannend und viel­fältig die Arbeit sei. Die Räumlichkeiten seien modern und ­zentral gelegen, mitten in der Stadt, mit Tram und Bus gut erreichbar. Er würde weiterhin den Morgen übernehmen, ich könne die Praxis am Nachmittag selbstständig führen. Entschieden lehne ich ab.
Schliesslich packt A. mehrere Krankengeschichten in zwei Papiersäcke: Er will in der Nacht noch diagnostische Unklarheiten nachschlagen und neuste Behandlungsmethoden für eine Patientin überprüfen. Nachdenklich stehe ich an der Tramhaltestelle und sehe ihm nach, wie er müden Schrittes und schwer beladen in die Nacht entschwindet.
iris.ritzmann[at]saez.ch