Eine Veranstaltungsreihe in der Klinik Schützen Rheinfelden und im Literaturhaus Basel

Leben & Schreiben

Horizonte
Ausgabe
2019/44
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18297
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(44):1474-1477

Affiliations
Dr. med., Leitende Ärztin Clinica Curativa, Scuol

Publiziert am 29.10.2019

Warum sollten Ärzte, Psychiater und Psychotherapeuten sich mit Literatur beschäftigen? In der Sprechstunde und Visite finden wir uns Menschen gegenüber, die in einer akuten Lebenskrise stecken, an einer unheilbaren Krankheit leiden, denen die selbstverständlichsten Dinge des Alltags abhandengekommen sind. Für uns ist nur bedingt nachvollziehbar, wie sie sich fühlen, was sie von uns brauchen, ausser der professionellen Hilfe. Möglicherweise könnten wir uns besser in jemanden hineinversetzen, wenn wir eine ähnliche Situation bereits in einem Roman, ­einem Theaterstück oder einem Film vorgefunden hätten.
Die Auseinandersetzung mit Kunst kann uns zu einem erweiterten Sehen, Hören, Fühlen befähigen. Der Arzt und Psychotherapeut ist sozusagen ein Instrument, das gestimmt werden muss und dessen Verständnis für das Erleben des Gegenübers geschärft werden kann. Checklisten, Fragebögen und Algorithmen in der Behandlung sind gut und notwendig, doch es geht ­darum, die intellektuellen und emotionalen Herausforderungen des Arztberufes, des Psychiaters und Psychotherapeuten zu erkennen, die jenseits des Curriculums liegen.
Prof. em. Remo Largo, Dr.Melitta Breznik (mi) und Dr. Hanspter Flury (v.l.n.r.) anlässlich der Podiumsdikussion im Literaturhaus Basel zu Largos Buch «Das Passende Leben». 
(Foto: © Literaturhaus Basel)
Die Medical Humanities, ein Studienfach aus dem englischsprachigen Raum, beschäftigen sich unter anderem mit dem Einfluss der «schönen Künste», aber auch der Philosophie und Soziologie auf die Behandlung. Sie sollen medizinischem und therapeutischem Fachpersonal dabei helfen, die Reflexion der eigenen Arbeit, das Verständnis für fachfremde Argumente, die interdisziplinäre Arbeit und die ethische Entscheidungs­findung zu vertiefen und zu verbessern.
Auf diesem Hintergrund entstand im Sommer 2013 die Veranstaltungsreihe «Leben & Schreiben». Sie bietet Ärzten, Psychiatern, Psychotherapeuten, Patienten und Publikum die Möglichkeit, sich vertieft mit Literatur, als Träger von Lebensgeschichten, im Gespräch mit den urhebenden Autoren auseinanderzusetzen. Die Initiatoren der Reihe waren Katrin Eckert vom Literaturhaus Basel, Hanspeter Flury, Chefarzt und Klinikdirektor der Klinik Schützen, und Melitta Breznik, selbst Schriftstellerin und Leitende Ärztin der Rehabilitationsklinik Clinica Curativa, Scuol. Die Lesungen mit anschliessender Podiums- und Publikumsdiskussion finden 2–4 Mal im Jahr abwechselnd in der Klinik Schützen und im Literaturhaus Basel statt.

Bereits vorgestellte Bücher

Den Anfang machte Connie Palmen, eine niederländische Bestsellerautorin, die sich in ihrem Roman «Logbuch eines unbarmherzigen Jahres» mit dem Sterben und dem Tod ihres Ehemannes beschäftigt. Mit unmittelbarer Präsenz und Offenheit begegnete die Autorin den Fragen am Diskussionspodium und verstand es, auf die Themen am Ende des Lebens einzugehen, insbesondere was es heisst, nach dem Verlust des Partners allein zurückzubleiben.
David Wagner war als nächstes mit «Leben» im Literaturhaus Basel zu Gast und stellte das Schicksal eines jungen Mannes vor, der sich einer Lebertransplantation unterziehen muss. In einer geschickten Montage liess er den Leser teilhaben an Momenten vor und nach dem Eingriff. Er schildert die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass nur durch den Tod eines anderen Menschen das eigene Leben gerettet werden konnte und nun ein fremdes Organ im eigenen Organismus arbeitet.
Dr. Hanspeter Flury, David Wagner, Auto von «Der vergessliche Riese», Dr. Melitta Breznik und Katrin Eckert, Intendantin Literaturhaus Basel,auf dem Podium im Hotel Eden. (Foto: © Klinik Schützen)
An der BuchBasel, dem alljährlichen Literaturfestival, folgte das Autorenduo Petra Anwar und John von Düffel mit «Geschichten vom Sterben». Anwar, eine Berliner Palliativmedizinerin, schildert die individuelle Betreuung von Menschen am Ende des Lebens. Es sind anrührende Geschichten, die mit Hilfe des Autors von Düffel zu Papier gebracht worden sind und die helfen können, die Augen vor Sterben und Tod nicht zu verschliessen.
Martin Miller widmete sich im Buch «Die wahre Geschichte des begabten Kindes» dem Thema der psychischen Integrität während des Erwachsenwerdens. Es geht einerseits um die Rezeption seiner berühmten Mutter, Alice Miller, durch die Aussenwelt, andererseits um die Geschichte ihres Überlebens im Warschauer Getto, aber auch um ihre Rolle als Mutter, die mit der Erziehung ihres Sohnes Mühe hatte. Martin Miller hat sich in einem Akt der Selbstbehauptung versucht, von der übergrossen Mutter zu emanzipieren.
Das Thema Sucht, deren Höhen und Tiefen präsentierte Peter Wawerzinek in schauspielerisch begabter Weise während seiner Lesung aus «Schluckspecht». Man ist fast gewillt, es so zu sehen, es ist der Autor selbst, der durch die Bedingungen, die der Alkohol ihm immer wieder aufzwingt, hart am Rand des Untergangs segelt. Eine kunstvoll verfremdete Erzählung, rhythmisiert in der Sprache, ausufernd und exzessiv.
Im Winter 2014 stellte Wolfgang Martynkewicz mit «Das Zeitalter der Erschöpfung» eine Recherche über das Phänomen der Erschöpfung um 1900 vor. Selbst wenn wir glauben, dieses Thema heute gepachtet zu haben, belehrt uns dieses Buch eines Besseren. Es liefert eine Rückblende auf die gesellschaftlichen Nöte von damals: Es grassierte eine überwältigende «Überforderung des Menschen durch die Moderne», durch alle Sozialschichten hindurch.
Im Frühling 2015 berichtete Martin Pollack über «Kontaminierte Landschaften», wo Tausende namenlos gewordene, heimlich verscharrten Tote – Juden oder Roma, Antikommunisten oder Partisanen – ruhen. Martin Pollack geht es um das schonungslose, aber sorgsame Zeichnen einer anderen, wahrhaftigeren Landkarte unseres Kontinents, in der Erinnerung und Verortung an die Stelle vergifteter Geheimnisse treten, die unbewusst noch immer die Politik bestimmen.
Florian Steger, Professor für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Ulm, besuchte mit dem Buch «Max Mohr – in welcher Welt zu Hause?» die Klinik Schützen. Auf der Suche nach Schriftstellerärzten im Rahmen seiner Tätigkeit ist er auf den deutschen Arzt Max Mohr gestossen, einen in den dreissiger Jahre­n erfolgreichen jüdischen Autor, der aus dem ­nationalsozialistischen Deutschland nach Shanghai ­auswandern musste, wo er 1937 an einem Herzinfarkt starb.
Im Januar 2016 ging es darum, wie Migrationshintergrund das literarische Schreiben beeinflusst. Andrei Mihai­lescu stellte «Guter Mann im Mittelfeld» vor, eine fiktive Geschichte, in der er die Verhältnisse und Beziehungsstrukturen unter der rumänischen Diktatur darstellt, aus der er im Alter von sechzehn Jahren mit seinen Eltern geflohen ist. Als zweite Autorin präsentierte Meral Kureyshi ihr Buch «Elefanten im Garten», in welchem sie sich mit dem Tod ihres Vaters auseinandersetzt und mit ihrer Heimat Kosovo, aus der sie mit der Familie als Zehnjährige in die Schweiz emigrierte.
Der Psychotherapeut und Autor Dr. Alain Guggenbühl stellte im Schützen sein Buch «Die vergessene Klugheit» vor. Er vertritt darin die These, dass wir trotz ­Ausbildung in gewissen Situationen unter einer eklatanten Denkschwäche leiden. Anhand konkreter Situationen zeigt er auf, dass Klugheit weit mehr bedeutet als die Verfügbarkeit von Wissen, nämlich, dass man sich getraut, sich über berufliche Standards hinaus­zuwagen, wenn es angezeigt ist.
Im Frühling 2016 kam Ursula März ins Literaturhaus Basel mit dem Buch «Für eine Nacht oder fürs ganze Leben». Die Autorin präsentierte Geschichten von moder­nen virtuellen Liebesmärkten und fragt, ob die Liebe heute tatsächlich anders geworden ist. Im Gespräch ging es auch um die Geschichte der Liebeswahl, die Ursula März mit Beispielen aus der Literatur von Jane Austen bis Arno Geiger illustrierte.
Der Journalist Sacha Batthyany beschäftigt sich in «Was hat das mit mir zu tun?» mit einem Massenmord an ungarischen Juden, der während eines Festes auf dem Schloss seiner Grosstante im österreichischen Rechnitz stattfand. Seine Recherchen führten ihn zu seiner weit verstreuten Verwandtschaft, aber auch zu einem Analytiker in Zürich, auf dessen Couch er versuchte, die Rolle seiner Grosstante, aber auch seine ­eigene Rolle in der Aufarbeitung der Geschichte zu analysieren.
Wiederum an der BuchBasel stellte Michael Kumpfmüller «Die Erziehung des Mannes» vor. Hier seziert er die Mühen der Männer in der modernen Gesellschaft mit ihrem Kampf um Anerkennung anhand seines Protagonisten, der durch die Beziehung zu den Frauen so gar nicht recht zu sich selbst zu kommen scheint. Bei der Podiumsdiskussion war das Buch Grundlage für den Diskurs über die Rolle des Mannes in einer sich verändernden Gesellschaft.
Rüdiger Safranski berichtet in seinem Buch «Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen» literarisch, historisch und philosophisch zugespitzt von der Zeit. Leichtfüssig und unterhaltsam greift er dabei auf seine Studien über die Romantiker, Nietzsche und Schopenhauer zurück.
Thomas Melle, der an einer manisch-depressiven Erkrankung leidet, schildert im Frühling 2017 in «Die Welt im Rücken» von seinem ureigensten Erleben in den Phasen der Manie und tiefsten Depression. Er beschreibt in lebhafter Prosa die Wahrnehmung seiner Person durch die Aussenwelt, berichtet direkt aus der Hölle der Krankheit und von der Hilflosigkeit seiner Umwelt.
Katja Lange-Müller besucht die Reihe im September 2017 mit ihrem Buch «Drehtür» Eine alternde Krankenschwester war für Hilfswerke in aller Welt tätig und erhiel­t zum Geburtstag ein Flugticket zurück nach Deutschland. Man schickte sie in den Ruhestand, doch der beginnt und endet zugleich an einer Drehtür am Flughafen, wo intensiv Szenen aus ihrem Leben im Rückblick an ihr vorbeiziehen.
Vier Jahrzehnte war Martin Meyer im feuilletonistischen Einsatz als Redaktor der «Neuen Zürcher Zeitung», lange als deren Kulturchef. So ist er zum Zeugen der Vergänglichkeit geworden. In seinem Buch «Gerade gestern» begibt sich Meyer auf die Suche nach verschwundenen Zeiterscheinungen, unter anderem der Ära des Playboys, des Pfeifenrauchers oder des Schriftsetzers.
Katharina Adler stellte im Literaturhaus ihr Debüt «Ida» vor, die Geschichte ihrer Urgrossmutter, die als junges Mädchen bei Sigmund Freud um 1900 auf ­dessen Couch lag und die Behandlung selbständig abbrach, weil sie mit den Deutungen des Arztes wenig anfangen konnte. Aus ihrer Therapie ging Freuds wichtige Schrift «Bruchstück einer Hysterie-Analyse» hervor, in der er die Entdeckung der Übertragung schilderte.
David Wagner kam erneut im September 2019 mit «Der vergessliche Riese» in die Klinik Schützen, eine liebevolle Betrachtung über seinen dementen Vater, die fesselnd fast ausschliesslich in Dialogen verfasst ist. Er beschreibt nicht nur das Fortschreiten der Erkrankung, sondern auch die sich verändernden BRD über drei Generationen.
An der BuchBasel folgt im November Angela Lehner mit ihrem Debütroman «Vater unser», der auf der Long­list des Deutschen Buchpreises nominiert ist. Sie erzählt aus der Innensicht einer Patientin, die gegen ihren Willen von der Polizei in eine psychiatrische Klinik in Wien eingeliefert wird, wo sie auf ihren Bruder trifft, der ebenfalls dort Patient ist. In eindrücklichen Bildern ergibt sich das Bild einer zerrütteten Familiengeschichte.

Leben & Schreiben

Das Ziel der Veranstaltung ist, sich wieder einmal Zeit für ein Buch zu nehmen, Bilder und Geschichten im Kopf entstehen zu lassen und sich hineinziehen zu lassen in andere Welten, Empfindungen, Ansichten.
Die nächste Lesung findet statt am:
9.11.2019 um 11 Uhr
Autorin: Angela Lehner
Titel des Buches: Vater unser (Hanser Verlag)
Buch Basel, Club im Jazzcampus, Utengasse 15, CH-4058 Basel
Eintritt: 15 CHF
Dr. med. Melitta Breznik
melitta.breznik[at]cseb.ch

Dr. med. Hanspeter Flury
Hanspeter.flury[at]klinikschuetzen.ch