Höhlenkunst

Horizonte
Ausgabe
2019/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18304
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(46):1557

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 13.11.2019

Die herbstlichen Wälder im Tal der Vézère leuchten in der Morgensonne. Im Schutz der überhängenden Kalkfelsen wurden hier mehr vorgeschichtliche Siedlungsreste gefunden als irgendwo sonst in der Welt. Das moderne Musée national de Préhistoire in Les Eyzies ist mit seinen Ausstellungsräumen, Labors und Magazinen ein Referenzort für Urgeschichte. Hervorragend gestaltet, bietet es den Besuchern Einblicke in die bisherigen Funde, darunter Kostbarkeiten wie die kleine Skulptur eines Bisons, der den Kopf dreht, um sich am Rücken zu lecken. Unzählige Silexklingen, Schmuckobjekte aus Elfenbein, Tierzähnen und Muscheln lassen eine Welt auferstehen, die unvorstellbar weit in der Vergangenheit liegt. Die Epochen der jüngeren Steinzeit sind nach Fundorten benannt, vom ältesten Aurignacien und Gravettien über das Solutréen bis zum Magdalénien.
Lascaux 2, September 2019. (© Erhard Taverna)
Die berühmten Gemälde von Lascaux datieren aus einem Zeitraum von 22 000–17 000 Jahren v.Z. Noch älter sind Chauvet und Pech Merle. Die Höhle von Lascaux wurde 1940 entdeckt und sehr bald touristisch vermarktet. 1963 musste sie wegen irreparablen Schäden geschlossen werden. Die mit Ockerfarben, Eisen- und Manganoxyd gemalten Kunstwerke wurden von Algen, Pilzen und Bakterien befallen. Monique Peytral und ihr Team haben sie erstmals handwerklich untersucht und auf die neuen Wände übertragen. 1983 wurde Lascaux 2, eine exakte Kopie, eröffnet. Die Büffel, Pferde, Rentiere und Hirsche sind auch als Faksimile wunderbar anzuschauen. Die Plastizität der Felswände gehört zum künstlerischen Ausdruck. Keine mensch­lichen Darstellungen, ausser abstrakten weiblichen Geschlechtsmerkmalen und einem rätselhaften Vogel­wesen. Kaum vorstellbar, dass die Bilder im Schein von brennenden Fettlampen, auf engstem Raum, aufgemalt oder geritzt wurden. Lascaux 3 ist eine Wanderausstellung, Lascaux 4 eine Kopie des ganzen Höhlensystems mit allen Mitteln heutiger Computertechnologie und Animation. Wer es etwas ruhiger haben möchte, soll unbedingt die Höhle von Pech Merle besuchen. Ein Labyrinth von Stalagmiten und Stalaktiten mit versteckten Mammuts, Bären, Pferden, Wisents und vielen nega­tiven Handabdrücken, nicht polychromatisch, aber ebenso überraschend und berührend. Im Calcit eines ausgetrockneten Baches Fussspuren eines Kindes. Können wir uns eine Welt vorstellen, in der sich nichts zu ändern scheint? Ein Interglazial, der Wechsel von Steppe zu Wäldern, dauert lange, ein menschliches Leben ist viel zu kurz. Bis auf Tierlaute herrscht eine absolute Stille, nachts funkeln Sternenabgründe, unversehrt von Licht und Smog. Zu essen gibt es genug. Die Jäger und Sammler folgen den Tierherden, sie jagen Auerochsen, Bisons, das Mammut und Pferde. Wichtigster Fleischlieferant ist das Rentier. Mit welchen Vorstellungen lebten sie? Eine animistisch-magische Welt, mit Kultstätten tief im Felsen, mit Grabritualen, die auf einen Jenseitsglauben hinweisen. Das Geheimnis der kunstvollen Malereien werden wir nie ergründen. Mit dem letzten Abschmelzen der Gletscher kam eine Einwanderungswelle aus dem Nahen Osten. Diese Menschen züchteten Pflanzen und domestizierten Tiere. Die Gesellschaften differenzierten sich. Die neolithische Revolution war wirklich eine völlige Umwälzung der Verhältnisse.
Und noch einmal ein grosser Sprung zurück. Was war mit dem Neandertaler? Er war schon sehr viel länger dort als der Homo sapiens. Im Musée national de Préhistoire liegt das Skelett eines Neugeborenen. Eine Figurengruppe zeigt den Neandertaler als grossgewachsene, kräftige ­Figur. Sein Bild hat sich ständig geändert, vom wilden Halbaffen zum Bruder Neandertal, der uns immer ähnlicher wird. Wir haben ja noch ein paar Gene von ihm. Vielleicht wären mehr davon für uns besser gewesen.
erhard.taverna[at]saez.ch