«smarter medicine»: «Top-5-Liste» für Gerontologische Pflege

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2019/45
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18337
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(45):1493-1494

Publiziert am 06.11.2019

Im Rahmen der Initiative «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» veröffentlicht die Akademische Fachgesellschaft (AFG) für Gerontologische Pflege als erste nicht-ärztliche Organisation eine Top-5 Liste. Im Unterschied zu den bisher publizierten Listen liegt der Fokus bei diesen Handlungsempfehlungen nicht auf der Fehl- und Überversorgung, sondern auf der poten­ziellen Unterversorgung der Patientinnen und Patienten. Für die Umsetzung der Empfehlungen, die auf den ersten Blick möglicherweise selbstverständlich wirken mögen, müssen Verhaltensroutinen durchbrochen werden. Dazu sind die Unterstützung der Führungspersonen und das Commitment aller Beteiligten nötig. Wünschenswert ist eine Diskussion der fünf Empfehlungen überall dort, wo alte Menschen Pflege benötigen. Die AFG Gerontologische Pflege hofft, mit ihrer Liste eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik zu fördern und als Vorbild für weitere Top-5-­Listen der Pflege und anderer Gesundheitsberufe zu wirken.

Die Akademische Fachgesellschaft 
für Gerontologische Pflege gibt die fünf folgenden Empfehlungen ab

1. Lassen Sie ältere Menschen nicht im Bett liegen oder nur im Stuhl sitzen.

Bei bis zu 65 Prozent der älteren Menschen, die selbstständig gehen konnten, verschlechtert sich die Geh­fähigkeit während eines Spitalaufenthaltes. Bettruhe oder nur im Stuhl sitzen während eines stationären Aufenthalts verursach Kraftverlust und sind Hauptfaktoren für die Verschlechterung der Gehfähigkeit bei älte­ren Menschen. Der Verlust der Gehfähigkeit verlängert den Spitalaufenthalt, erhöht den Bedarf einer anschliessenden Rehabilitation oder hat einen Heimeintritt als Folge. Zusätzlich steigen das Sturzrisiko und die Mortalität sowohl während wie auch nach dem Spitalaufenthalt. Die Förderung der Gehfähigkeit ist deshalb entscheidend, um die funktionale Fähigkeit bei älteren Menschen zu erhalten und um die pflegenden Angehörigen nicht einer höheren Belastung auszusetzen. Die negativen Auswirkungen von Immobilität gelten auch für Menschen im Pflegeheim oder in der häuslichen Umgebung. Die Zielsetzungen der Mobilisation und die Förderung der Gehfähigkeit müssen personenzentriert auf das Setting, den Lebensentwurf und die persönliche Lebenssituation der betroffenen Person angepasst werden.

Zur Entstehung dieser Liste

Die American Academy of Nursing hat im Rahmen der Choosing Wisely®-Kampagne der ABIM-Stiftung, der Stiftung des American Board of Internal Medicine, eine Liste mit aktuell 25 Punkten erarbeitet, die Pflegende und Patientinnen in Frage stellen bzw. unterlassen sollen. Sechs dieser Empfehlungen beziehen sich expli­zit auf die Pflege und Betreuung alter Menschen. In einem ersten Schritt haben alle Mitglieder der Akademischen Fachgesellschaft in einem Online-Survey die aus ihrer Sicht fünf relevantesten Empfehlungen bestimmt. Eine Kerngruppe führte zu jeder Empfehlung eine vertiefte Literatursuche durch. Die Empfehlungen wurden übersetzt und die beschreibenden Texte er­arbeitet. Die so entstandene Top-5-Liste wurde in der gesamten AFG und abschliessend im Schweizerischen Verein für Pflegewissenschaft vernehmlasst. Bei verschiedenen Kontakten mit bzw. Präsentationen bei geriatrisch-spezialisierten Pflegefachpersonen zeigte sich ein hohes Commitment für die erarbeitete Top-5-Liste; eingebrachte Anregungen flossen weitgehend in die Endversion ein.

2. Vermeiden Sie bewegungseinschränkende Massnahmen bei älteren Menschen.

Bewegungseinschränkende Massnahmen sind selten eine Lösung und verursachen häufig weitere Probleme wie erhöhte Unruhe und ernsthafte Komplikationen, die im schlimmsten Fall zum Tod führen können. Bewegungseinschränkende Massnahmen erfolgen oftmals bei herausforderndem und/oder gefährdendem Verhalten. Solche Situationen erfordern sofortige Aufmerksamkeit und ein spezifisches Assessment zur Analyse der Situation. Eine klare Strategie zur Vermeidung von herausforderndem und/oder gefährdendem Verhalten wie auch zum Umgang damit sowie eine gute Abstimmung mit Angehörigen sind dabei von hoher Bedeutung. Sicherheit und eine dem Menschen zugewandte Betreuung ohne bewegungseinschränkende Massnahmen werden unterstützt, wenn ein interprofessionelles Team und/oder eine Pflegeexpertin beim Antizipieren, Identifizieren und Suchen einer Problem­lösungsstrategie beratend zur Seite stehen. Eine Organisationskultur mit entsprechender Grundhaltung und Strukturen sowie Weiterbildungsangebote, die eine Betreuung ohne bewegungseinschränkende Massnahmen unterstützen, sind unabdingbar.

3. Wecken Sie ältere Menschen nachts nicht für routinemässige Pflegehandlungen, solange es weder ihr Gesundheitszustand noch ihr Pflegebedarf zwingend verlangen.

Physiologisch betrachtet verändert sich der nächtliche Schlaf im Alter. Ältere Menschen brauchen länger fürs Einschlafen, schlafen weniger tief und wachen mehrmals auf. Weiter stören gesundheitliche Probleme wie Schmerzen, Atemnot oder häufiges nächtliches Wasserlassen den gesamten Schlaf-wach-Rhythmus. Das regelmässige Runden der Pflege, um zu prüfen, ob alles in Ordnung ist, verursacht unnötig Lärm und Licht, was zu mehr Schlafunterbrüchen und schliesslich zu Schlafstörungen führen kann. Schlafstörungen wirken sich negativ auf die Gesundheit und das Wohlbefinden aus, sie beeinträchtigen körperliche Aktivitäten und können zu Delir, Depression oder anderen psychischen Beeinträchtigungen führen. Pflegepersonen sollten besonders bei älteren Menschen einen erholsamen nächtlichen Schlaf aktiv fördern. Die Schlafbiographie der älteren Menschen gibt Gewohnheiten und Rituale preis, die den nächtlichen Schlaf unterstützen. Unnötige Störfaktoren sind auf Abteilungsebene zu eruieren und möglichst zu eliminieren.

4. Legen oder belassen Sie keinen Urinkatheter ohne spezifische Indikation.

Der Katheter-assoziierte Harnwegsinfekt ist eine der häufigsten nosokomialen Infektionen. Katheter-assoziierte Harnwegsinfektionen verlängern die Dauer des Spitalaufenthalts und erhöhen sowohl Morbidität und Mortalität als auch die Kosten. Zu den wirksamsten Präventionsmassnahmen gehören die Vermeidung unnötiger Katheterisierungen und gezielte Inter­ventionen zur Aufrechterhaltung eines optimalen Urin­ausscheidungsmusters. Falls ein Katheter unvermeidbar ist, sollen die medizinische Indikation täglich geprüft und die Liegedauer auf ein Minimum beschränkt werden. Bei der Beurteilung der Situation stehen immer das Belastungserleben und die Lebens­qualität der älteren Menschen im Fokus.

5. Vermeiden Sie die Verabreichung von Reservemedikationen wie Sedativa, Antipsychotika oder Hypnotika bei einem Delir, ohne die zu Grunde liegenden Ursachen zuerst abzuklären, zu eliminieren oder zu behandeln. Verwenden Sie vorwiegend nicht-pharmakologische Ansätze zur Prävention und Behandlung eines Delirs.

Die entscheidenden Schritte in der Behandlung eines Delirs sind die Identifikation und die Eliminierung oder Behandlung der zu Grunde liegenden Ursachen. Ein Delir ist oft eine direkte physiologische Folge einer anderen Erkrankung, einer Substanzintoxikation, eines Entzugs, einer Exposition gegenüber einem Toxin oder hat multiple Ursachen. Es sollten daher eine detaillierte Anamnese und körperliche Untersuchung durchgeführt, entsprechende Labor-/diagnostische Tests verordnet, eine gründliche Medikationsprüfung vorgenommen und Medikamente, die ein Delir verursachen könnten, abgesetzt werden. Da zahlreiche Medi­kamente oder Medikamentengruppen mit der Entwicklung eines Delirs zusammenhängen (z.B. Benzodiazepine, Anticholinergika, gewisse Antihistaminika, Sedativa/Hypnotika), sollte ihre Verabreichung als Reservemedikament wenn möglich vermieden werden. Darüber hinaus sollten Antipsychotika nur in der niedrigsten wirksamen Dosis, für die kürzeste Zeitdauer und nur bei älteren Menschen verabreicht werden, die stark agitiert und/oder fremd- oder selbstgefährdend sind. Diese Medikamente verursachen starke Nebenwirkungen, und es gibt nicht genügend Evidenz für ihre sichere und wirksame Anwendung bei einem Delir. In Bezug auf die Delirprävention wird empfohlen, verschiedene nicht-pharmakologische Interven­tionen zu implementieren, die konsistent während der ganzen Hospitalisation vom interprofessionellen Team durchgeführt werden.

Die Kampagne «smarter medicine»

Der Trägerverein «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland», der nebst medizinischen Fach- und Berufsorganisationen auch von Patienten- und Konsumentenorganisationen unterstützt wird, möchte die Öffentlichkeit für die Themen der Fehl- und Überversorgung sensibilisieren. Die Kampagne knüpft dabei an die erfolgreiche amerikanische Initiative «Choosing Wisely» an, die zum Ziel hat, nicht nur «kluge Entscheidungen» herbeizuführen, sondern auch die offene Diskussion zwischen Ärzteschaft, Patientinnen und Patienten und der Öffentlichkeit zu fördern. In den nächsten Monaten werden weitere medizinische Fachgesellschaften sogenannte Top-5-Listen mit unnützen Behandlungen in ihrem Fachbereich publizieren. Zudem hat der Verein im Oktober 2018 eine breite Kampagne für Patientinnen und Patienten lanciert: Die bisher veröffentlichten Empfehlungen sind neu in einer für Laien verständlichen Sprache verfügbar, um gemeinsame Entscheidungen zu unterstützen. Weitere Informationen zum Trägerverein und eine Übersicht über die bestehenden Top-5-Listen sind zu finden unter www.smartermedicine.ch
Trägerverein
smarter medicine
c/o SGAIM
Monbijoustrasse 43
CH-3001 Bern
smartermedicine[at]sgaim.ch