Ausbildung in Personalisierter Medizin

Neue Grundlagen für Gesundheitsfachleute

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2019/46
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18368
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(46):1535-1536

Affiliations
Generalsekretärin der SAMW

Publiziert am 13.11.2019

Fragen zur Zukunft des Gesundheitssystems und die Veränderungen, die personalisierte Medizin mit sich bringt, werden in Wissenschaft, Medien und Politik engagiert diskutiert. Auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) beschäftigt sich mit diesen Fragen. Überzeugt, dass medizinische Fachkräfte über gewisse gemeinsame Grundkenntnisse der personalisierten Medizin verfügen müssen, hat die SAMW Grundlagen erarbeitet für die interprofessionelle Aus-, Weiter- und Fortbildung von Gesundheitsfachleuten.
Bereits vor mehr als einem Jahrhundert hat der englische Arzt Archibald E. Garrod die Bedeutung der «biochemischen Individualität» des Menschen erkannt. Bis diese Erkenntnis auch für das gesundheitliche Wohl der Patientinnen und Patienten Früchte trug, dauerte es jedoch noch mehrere Jahrzehnte. Heute verfügen wir – dank rasanter Fortschritte in den biomedizi­nischen Wissenschaften und Informationstechno­logien – über riesige Datenmengen, die es erlauben, Krankheitsrisiken möglichst früh zu erkennen, medizinische Behandlungen an die Besonderheiten bestimmter Patientengruppen anzupassen oder wirksame Gesundheitsstrategien für die Bevölkerung zu entwickeln.
Der Begriff «Personalisierte Medizin» wird oft als unglücklich kritisiert, weil medizinische Behandlungen seit jeher auf die Patienten ausgerichtet und somit personalisiert sind. Daniel Scheidegger, Präsident der SAMW, nimmt die Thematik im Vorwort der neuen Publikation auf und erklärt, was sich mit der heutigen personalisierten Medizin verändert hat: «Es zählt nicht mehr nur die Erfahrung des einzelnen Spezialisten, der lediglich eine begrenzte Anzahl Patientinnen und Patienten kennt. Die riesigen Datenpools ermög­lichen die Bildung von Diagnose-Untergruppen, und an diesen kann eine erfolgversprechende Therapie ge­testet werden. Ergebnisse bezüglich Langzeiterfolgen oder Nebenwirkungen sind so viel schneller für alle zugänglich.»

Mehr zum Thema

Die soeben veröffentlichten «Grundlagen» sind Teil einer Reihe von Projekten zur personalisierten Medizin, die die SAMW entweder allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedern der Akademien der Wissenschaften Schweiz durchführt. Im Jahr 2016 hat der Bund die SAMW mit dem Aufbau des Swiss Personalized Health Network (SPHN) beauftragt. Dieses hat zum Ziel, Gesundheitsdaten schweizweit für die Forschung nutzbar zu machen und die Entwicklung der personalisierten Medizin und Gesundheit zu fördern. Darüber hinaus setzt sich die SAMW dafür ein, die Bevölkerung für das Thema zu sensibilisieren und sachlich über die Chancen und Risiken der personalisierten Medizin zu informieren. In diesem Zusammenhang unterstützt sie beispielsweise das Themenportal, das vom Forum Genforschung der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) betreut wird, und das Dialogprojekt «Mensch nach Mass» der Stiftung Science et Cité.
Links zu den Projekten:
Damit personalisierte Medizin erfolgreich umgesetzt werden kann, müssen Gesundheitsfachleute neue Fähig­keiten erwerben. Das Doppelprofil von Arzt und Bioinformatiker wäre heute besonders gefragt. Wie Prof. Antoine Geissbuhler im Magazin der Universität Genf Campus erklärt, ist eine Anpassung des medi­zinischen Curriculums unabdingbar. Studierende müssen lernen, Computerprogramme anzuwenden, die gros­se Datenmengen sortieren und analysieren. Ausserdem sollten sie verstehen, wie diese Programme funktionieren und wo ihre Grenzen liegen. Die Universität Genf entwickelt deshalb für Studierende des dritten Studienjahrs Biologie und Medizin einen Online-Kurs (MOOC) mit diesen Inhalten [1].

Interprofessioneller Ansatz

Die Entwicklung und Anwendung einer «massgeschneiderten» Medizin – basierend auf Personalisierung, Prognose, Prädiktion und Partizipation – prägt nicht nur die Ausbildung und Arbeit von Ärztinnen und Ärzten, sondern jene sämtlicher Gesundheitsberufe. Aus diesem Ansatz hat die SAMW die neuen Grundlagen für die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Gesundheitsfachleuten interprofessionell konzipiert. Entsprechend interprofessionell war die zuständige Arbeitsgruppe aufgestellt: Die Grundlagen wurden 
unter der Leitung von Prof. Anita Rauch erarbeitet, ­Direktorin des Instituts für Medizinische Genetik an der Universität Zürich und Mitglied des SAMW-­Vorstands, in Zusammenarbeit mit medizinischen Fachgesellschaften und Fachverbänden, Professorinnen und Professoren von Fachhochschulen für Pflege, mit Genetikern, Grundversorgern und Patientenorganisationen.
Personalisierte Medizin bietet ideale Voraussetzungen, um das medizinische Curriculum von Anfang an interprofessionell zu gestalten. Dies bringt den entscheidenden Vorteil, dass verschiedene Gesundheitsfachleute «die gleiche Sprache sprechen», wenn sie ­später im Berufsalltag aufeinandertreffen und ihre Fähigkeiten und Kompetenzen für die optimale Gesundheitsversorgung einsetzen. Bereits im 2007 veröffentlichten Positionspapier über zukünftige Berufsbilder von Ärztinnen, Ärzten und Pflegenden forderte die SAMW, dass es in den verschiedenen Ausbildungen neben berufsspezifischen Elementen zwingend gemeinsame Grundkenntnisse zu erwerben gilt [2]. Die Entwicklungen der heutigen Medizin verstärken dieses Bedürfnis.

Spiegel des aktuellen Wissensstands

Die nun vorliegenden Grundlagen fassen den aktuellen Wissensstand für die Aus-, Weiter- und Fortbildung in der personalisierten Medizin zusammen und sollen als Nachschlage- und Referenzwerk dienen. Nach einer allgemeinen Einführung mit Definitionen und Konzepten, die Möglichkeiten und Grenzen der personalisierten Medizin und ihre Bedeutung für Patientenverbände und Gesundheitsökonomie aufzeigen, konzentriert sich das Dokument auf medizinische Aspekte: Genetik, Onkologie, Pharmakogenomik, datenbasierte Wissenschaften und Public Health. Das letzte Kapitel widmet sich den rechtlichen, ethischen und psychosozialen Aspekten. Ein umfangreiches Glossar ermöglicht es auch einem breiteren Publikum, sich mit dem Fachjargon vertraut zu machen.
Die Herausgeber sind sich bewusst, dass angesichts des rasanten Fortschritts die Gültigkeit einer solchen Pu­blikation begrenzt ist. Dennoch kann sie einen Beitrag leisten, diese wichtigen Inhalte in Ausbildungsstätten für Gesundheitsfachleute zu verbreiten und damit die Entwicklung einer neuen Generation von Fachkräften mit zu prägen. SAMW-Präsident Daniel Scheidegger schreibt dazu im bereits zitierten Vorwort: «Die Personalisierte Medizin wird in den nächsten Jahren rasant an Bedeutung gewinnen. Ob sich die grossen Hoffnungen bewahrheiten, wird die Zukunft zeigen. Es wird spannend sein, das vorliegende Dokument in zehn Jahren wieder zur Hand zu nehmen und zu schauen, welche Voraussagen – positiver oder negativer Art – eingetroffen sind.»
Die neue Publikation kann entweder komplett oder kapitelweise auf der SAMW-Website heruntergeladen werden: samw.ch/grundlagen-personalisierte-medizin

Das Wichtigste in Kürze

• Die SAMW ist überzeugt, dass ein gemeinsames Basiswissen rund um Personalisierte Medizin essenziell ist für alle Gesundheitsfachleute, und veröffentlicht deshalb Grundlagen für die interprofessionelle Aus-, Weiter- und Fortbildung.
• Die Grundlagen fassen den aktuellen Wissensstand in der personalisierten Medizin zusammen und sollen als Nachschlage- und Referenzwerk dienen.
• Der Inhalt fokussiert auf medizinische Aspekte wie Genetik, Onkologie, Pharmakogenomik, datenbasierte Wissenschaften und Public Health.
• Ergänzend zum medizinischen Teil gibt es eine allgemeine Einführung mit Definitionen und Konzepten, ein Kapitel zu rechtlichen, ethischen und psychosozialen Aspekten und ein umfassendes Glossar.
Valérie Clerc,
Generalsekretärin
Schweizerische Akademie der Medizinischen
Wissenschaften SAMW
Haus der Akademien
Laupenstrasse 7
CH-3001 Bern
v.clerc[at]samw.ch
1 Campus. Le magazine scientifique de l’Université de Genève, n° 138, septembre 2019, pp. 19–20.
2 SAMW: Die zukünftigen Berufsbilder von ÄrztInnen und Pflegenden – Bericht und Kommentar, 2007 und 2011, S. 10–11.