Einschränkungen in der Suizidbeihilfe - auf die Dosis kommt es an

Zu guter Letzt
Ausgabe
2019/49
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2019.18402
Schweiz Ärzteztg. 2019;100(49):1688

Affiliations
iEH2 – Institut Éthique Histoire Humanités, Universität Genf

Publiziert am 03.12.2019

Zwischen 1955 und 1971 fiel die Suizidrate in Gross­britannien bei Männern von 14 auf 9% und bei Frauen von 9 auf 6%. Ein genauerer Blick auf die Daten macht deutlich, dass die Suizide durch Kohlenmonoxidver­giftungen drastisch zurückgingen, gleichzeitig jedoch nicht durch andere Suizidarten ersetzt wurden. Was war geschehen? Das Phänomen erklärt sich ganz einfach durch die Tatsache, dass die alten Gasherde systematisch durch eine neue Herdgeneration mit integriertem Sicherheitssystem ersetzt wurden. Im Klartext: Seit den Siebzigern ist es nicht mehr möglich, einfach in der eigenen Küche Selbstmord zu begehen, indem man den Kopf in den Backofen steckt.
Das Beispiel verdeutlicht, wie stark menschliche Entscheidungen – selbst zu folgenschweren Themen – von externen, sozialen oder materiellen Zwängen ­abhängig sind. Je mehr Reibung im Entscheidungsfindungsprozess, desto geringer die Aussicht auf Erfolg! Diese Regel gilt für Entscheide jeglicher Art – auch für den Entscheid zum Suizid.
Wenn wir diese Regel auf unsere in letzter Zeit stark medienpräsente Thematik des assistierten Suizids im medizinischen Kontext anwenden, stellt sich die grundsätz­liche Frage nach dem genauen Mass an Reibung, das gegeben sein muss, bevor auf Suizidhilfe zuzugreifen wäre. Eine deutliche Vereinfachung des Beihilfeprozesses würde einerseits spontan getroffene Suizidentscheide begünstigen, was natürlich vermieden werden soll. Andererseits wird die autonome Wahl des Patienten durch jedes Sandkorn im Verfahrensgetriebe eines Wunsches auf Suizidhilfe zwangsweise beeinträchtigt. Der Betroffene ist in der Regel verletzlich, geschwächt durch die Krankheit oder das Alter und verfügt kaum über die entsprechenden Ressourcen, um ins Verfahrensgetriebe geratene Sandkörner, die seine Wahl behindern, zu entfernen.
Ein Blick nach Italien: Sehr zum Leidwesen des Vatikans entschied das italienische Verfassungsgericht vor einigen Wochen, die bis zu diesem Zeitpunkt mit 5 bis 12 Jahren Gefängnis geahndete Suizidbeihilfe straffrei zu stellen. Allerdings wurde gleichzeitig präzisiert, dass diese Freistellung nur unter bestimmten Bedingungen gewährleistet ist. Der Wunsch der Patientin (des Patienten) muss unbeeinflusst, begründet und bewusst sein. Sie (er) muss eine «irreversible Pathologie» aufweisen, die Ur­sache für «unerträgliche physische und psychische ­Leiden» ist. Ausserdem muss ihr (sein) Überleben von ­«lebenswichtigen unterstützenden Behandlungen» abhängig sein. Des Weiteren bedarf es der Unterstützung durch ein zuständiges Ethikkomitee vor Ort. Und nicht zuletzt hat eine entsprechende Dienststelle des staatlichen Gesundheitsdienstes zu verifizieren, ob all diesen Voraussetzungen Genüge getan wurde, bevor grünes Licht zur Beihilfe gegeben wird. Bei Kenntnisnahme all dieser Bedingungen dürfte der Vatikan wohl beruhigt sein. Eine ganze Reihe Sandkörner wurden in den Validierungsprozess eines jeweiligen Wunsches nach Suizid­beihilfe gestreut. Es stellt sich die Frage, ob das Ver­fassungsgericht überhaupt zwischen dem Wunsch nach Suizidbeihilfe und einem einfachen Wunsch nach dem Absetzen einer Therapie unterscheidet.
Im Gegensatz zu Italien stellt das Strafgesetz in der Schweiz die Suizidbeihilfe straffrei, sofern sie auf Verlangen, nach reiflicher Überlegung und aus altruistischen Motiven geleistet wird. Es geht also hier eher dar­um, mit Blick auf das Strafgesetz noch ein paar weitere Sandkörner zu streuen, um nicht allzu viel Entgegenkommen seitens der Suizidbegleiter aufkommen zu lassen. Die Zielsetzung ist wichtig. Dabei sind das Wohl und der Respekt des Patienten im Auge zu behalten. ­Leider ist in diesem Kontext eine starke Dissonanz zu beklagen. Die Standesethik der FMH deckt sich nicht mit den Vorschriften der SAMW, und die Kantone haben diesbezüglich unterschiedliche Rechtsvorschriften. Jeder streut mehr oder weniger Sandkörner ein. Es gibt keine Verständigung in Bezug auf ihre Anzahl, ihre Wirkung oder ihren Nutzen. Hier bedarf es eingehender Überlegungen, aber es besteht Anlass zu Optimismus, denn die Hauptakteure scheinen sich auf einige Meilensteine zu einigen. Jüngste Debatten um den Prozess von Dr. Pierre Beck machen deutlich, wie wichtig es ist, in Grenzsituationen, in denen Hinweise gegeben sind, dass der Wunsch nach Suizidbeihilfe voreilig sein könnte, die «Meinung Dritter» einzuholen. Allerdings sollte der Rückgriff auf eine Drittmeinung nicht wie in Italien zum langwierigen Gang durch die Behörden werden, denn dies würde das Sandkorn zum Felsbrocken mutieren lassen.
Christine Clavien
Université de Genève
iEH2 – Institut Éthique
Histoire Humanités
CMU / Rue Michel-Servet 1
CH-1206 Genf
christine.clavien[at]unige.ch