Ein Lob der Ellenbeuge

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18434
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(03):78

Affiliations
Freischaffender Journalist

Publiziert am 15.01.2020

Jetzt tun sie es wieder. Im Zugabteil, im Restaurant, auf der Strasse: Gefühlte 99 Prozent der Bevölkerung husten und niesen in die Hand. Sogar in der Werbung für Grippemittel sind bisweilen Menschen abgebildet, die in die Hand husten. Ich gebe zu, es liegt sozusagen auf der Hand, intuitiv diesen Körperteil zu benutzen: Schliesslich langen wir uns auch mit der Hand an die Stirn und verstecken ein Gähnen oder lautes Lachen damit. «Hand vor den Mund»: Wer hat das nicht in der Kindheit schon gelernt?
Das Handhusten gilt praktisch als Teil des kulturellen Erbes und guten Verhaltens. Kein Wunder, denn auch dies scheint nicht immer selbstverständlich gewesen zu sein. So mahnte George Washington – Ende des 18. Jahrhunderts erster Präsident der USA – in seinem Werk 110 Regeln des Anstands und gegenseitigen Re­spekts in Gesellschaft und im Gespräch unter anderem, beim Husten ein Taschentuch oder die Hand vors Gesicht zu halten und sich abzudrehen. Noch zu ­Beginn des 20. Jahrhunderts machten im Zusammenhang mit der Tuberkulose Plakate in Strassenbahnen darauf ­aufmerksam, den Mitmenschen nicht ins Gesicht zu husten und nicht auf den Boden zu spucken: «Das bist du dir und deinem Nächsten schuldig!» So scheint das Husten und Niesen in die Hand ­damals ein hygienischer Fortschritt gewesen zu sein.
Bis vor wenigen Jahren gehörte auch ich zur Bevölkerungsmehrheit der Handhuster. Ich weiss nicht mehr, auf welchem Wege ich es erfuhr, dass es eine geschicktere Version gibt: In die Ellenbeuge husten und niesen. Denn heute wissen wir, dass die Hände zu den wichtigsten Übertragungswegen von Infektionskrankheiten gehören. Gerade weil wir die Hände intuitiv so ­häufig benutzen und damit auch Türfallen ergreifen, Menschen begrüssen ...
Infektiologen fragen im Zusammenhang mit Hand versus Ellenbeuge zu Recht: Worum geht es? Zu verhindern, dass Keime in die Einatmungsluft anderer Menschen gelangen? Oder um saubere Hände? Der Schutz der Atemluft könnte auch für das Handniesen sprechen. Und ja, das Händewaschen würde das Problem der Übertragung ebenfalls lösen. So empfiehlt auch das Bundesamt für Gesundheit auf seiner Website zur Grippeimpfung: «Halten Sie sich beim Husten oder Niesen ein Papiertaschentuch vor Mund und Nase. ­Waschen Sie sich danach gründlich die Hände mit ­Wasser und Seife. Wenn Sie kein Taschentuch zur Verfügung haben, husten oder niesen Sie in Ihre Armbeuge.»
Seien wir ehrlich: Wer ist schnell genug, immer in ein Taschentuch zu niesen und fleissig genug, anschlies­send jedes Mal die Hände zu waschen? Nicht realistisch. Darum mein Plädoyer für die Ellenbeuge. Denn schlussendlich geht es einfach darum, andere Menschen möglichst nicht mit Keimen zu infizieren.
Seit ich mich zur Bevölkerungsminderheit der Ellenbeugerhuster zähle, bleibt mir manchmal der Atem stocken. Zum Beispiel, wenn im Restaurant das er­kältete Servicepersonal in die Hand hustet und mir ­danach das Besteck hinlegt. Mein Händewaschen vor dem Essen ist damit auch hinfällig.
Ist es wirklich so schwierig, diese Gewohnheit zu ­ändern? Oder haben die meisten Menschen noch nie vom Sinn der Ellenbeuge gehört? Dann ist es höchste Zeit, die Botschaft weiterzuverbreiten. Nur, wer bin ich schon, im Zugabteil meine Mitfahrenden belehren zu wollen? Sie aber, liebe Leserin und lieber Leser, sind prädestiniert, der Ellenbeuge diskret zum Durchbruch zu verhelfen. All die erkälteten und vergrippten Patientinnen und Patienten, die jahrein, jahraus Ihr Behandlungszimmer aufsuchen, sind vermutlich empfänglich für Ihren Rat. Eingebettet in das Beratungsgespräch, als Teil etwa der Antwort auf die Frage: «Wie ansteckend bin ich denn jetzt noch?»
Und wer weiss, vielleicht lässt sich das Kulturerbe des Handhustens nur ablegen, wenn die jüngste Generation schon im Kinderhort davon erfährt und zu Hause den Eltern davon berichtet. Es scheint noch Hoffnung zu bestehen. So erzählte mir kürzlich eine Mutter, dass ihr 12-jähriger Sohn schon im Kindergarten gelernt habe, in die Ellenbeuge zu husten. Heute ekelt ihn, wenn jemand dazu die Hand benutzt. Wow!
adrianritter[at]gmx.ch