Über die Prostata

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18530
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(08):274

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 19.02.2020

Ich erinnere mich noch gut daran: Vor vielen Jahrzehnten prahlte unser alternder Chemielehrer vor der versammelten Klasse plötzlich vom Topzustand seiner Prostata. Walnussgross, eben erst untersucht. Uns pubertie­renden Schülern des Jungengymnasiums war seine unvermittelte Erzählung, gelinde gesagt, peinlich.
Nun ist – sozusagen – das Buch zu dieser schrägen Geschichte erschienen [1]. Ein deutschsprachiger Sammelband schwedischer «Medical Humanities»-Forschender lässt uns die Episode besser verstehen. Er macht klar, dass die Prostata viel mehr ist als eine Drüse, von der allenfalls medizinische Probleme wie Prostatitis, Hyperplasie oder Karzinome ausgehen.
Vielleicht wollte der Lehrer uns ja damals schon vom Vorsorgegedanken überzeugen. Heute zum Beispiel wird der früh entdeckte Prostatakrebs des Hollywoodschauspielers Ben Stiller als Werbe- und Erfolgsgeschichte der Prävention verwertet. Aber Prävention gilt nicht mehr als so eindimensional gut. Screening schafft auch viele potentiell Kranke, definiert einen Risikozustand, weckt Emotionen, legt neue Verhaltensnormen fest, führt vielleicht zur Übertherapie. Viele SÄZ-Artikel der letzten Jahre spiegeln Vorbehalte gegenüber einem unbedacht eingesetzten PSA-Test.
Die Prostata war für uns Schüler damals und ist bis heute ein Ort urogenitaler Peinlichkeit. Ihre Unter­suchung kann «Scham, Verlegenheit, Verletzlichkeit» auslösen, sogar zu Angstzuständen führen, besonders bei Männern mit Missbrauchserfahrungen. Das medizinische Personal reagiert in der Regel mit einer Art rücksichtsvoller Routine, aber zumindest schwedische Lehrbücher liefern wenig Unterstützung dabei, zum Beispiel bei der Frage der rücksichtsvollsten Unter­suchungsposition.
Vielleicht wollte unser Chemielehrer auch nur stolz seine Männlichkeit unter Beweis stellen. Bis heute ist die Prostata eng mit einem herkömmlichen Männerbild verbunden: Dazu gehört die Kontrolle über den eigenen Körper, die sich gerade auch in der Kontrolle des Urinierens zeigt. Die Probleme einer vergrösserten Prostata sind nicht nur extrem lästig, sie kratzen auch an diesem Verständnis von Maskulinität. In Deutschland sprach man bei häufigem Harndrang früher abschätzig von einer «Konfirmandenblase». Chirurgische Therapien können Erektionsprobleme schaffen. Hormontherapien «verweiblichen» die Patienten. Nach einer Operation müssen sich Patienten oft eine neue Identität als Männer suchen. Vielleicht hatte unser Lehrer, wie auch heute viele Patienten, Angst vor dem Verlust seiner Männlichkeit.
Oder er hatte Angst vor den drohenden Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs. Und plötzlich steigt in mir eine zweite Erinnerung auf. Ich glaube, es war unser Religionslehrer, der uns mit subtiler Aggression ausmalte, wie eine vergrösserte Prostata schmerzhaft «abgehobelt» würde.
Möglicherweise wollte unser alternder Chemielehrer den jungen Schülern mit dem schrägen Spruch seine Jugendlichkeit beweisen. Denn wer «pinkelt wie ein alter Mann», entspricht nicht mehr den gängigen Standards. Solche Standards zeigen sich sogar in der Stadtplanung in Form des Abstands öffentlicher Toiletten voneinander. Und ganz allgemein: Alte (weisse) Männer stehen heute generell nicht hoch im Kurs.
Schliesslich wollte unser Chemielehrer uns damit vielleicht auch seine moralische Normalität beweisen. Im frühen 20. Jahrhundert wurden Prostataprobleme auch auf «unnormale», «unmoralische» Sexualität, dar­unter ausserehelicher Sex und Onanie, zurückgeführt. So könnte damals im Unterricht auch noch ein Stück Medizingeschichte mitgespielt haben.
Durch den anregenden Sammelband wird deutlich, wie viel doch an dieser «einzigartigen Drüse» hängt. Unsere Lehrer damals haben das unbeholfen und deplatziert angesprochen. Geschickter war hier der amerikanische Ca-Patient Brian Regli, der seiner Prostata zur Totaloperation 2015 ein Abschiedslied komponiert und am Vorabend auf YouTube gestellt hat [2]. Sehr sehens­wert!
eberhard.wolff[at]saez.ch