Offener Brief an Professor M. Tanner – Präsident der Akademie der Wissenschaften

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/0102
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18537
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(0102):20

Publiziert am 08.01.2020

Offener Brief an Professor M. Tanner – Präsident der Akademie der Wissenschaften

Lieber Herr Professor Tanner,
Wir haben vom Resultat der Klimakonferenz in Madrid Kenntnis genommen, ohne Enttäuschung, da kein anderes Resultat zu erwarten war. Erfreulich war, dass die Schweiz sich positiv ausgezeichnet hat und nicht den Toten­gräbern der Natur gefolgt ist. Ein Legat von Hundertmillionen Schweizer Franken an die Universität Bern für die Forschung ist ebenfalls erfreulich.
Im Grossen und Ganzen muss man sagen, alea iacta sunt. Wer meint, die Menschheit wäre unter den gegebenen Umständen zu einer Beeinflussung der Erderwärmung fähig, gibt sich trügerischen Illusionen hin. Die meisten Menschen versuchen aber, nicht über die mögliche Entwicklung zum bitteren Ende nachzudenken, und folgen dem römischen Sprichwort: carpe diem. Für eine Änderung bedürfte es eines totalen Umdenkens und eines Verlassens traditioneller Wertvorstellungen, mit denen die Religionen die Menschheit vergiftet haben und in eine falsche Richtung führten bis zu den Grenzen menschlicher Existenzfähigkeit.
Klimaerwärmung und Massenvernichtungsmittel sind nicht eine böswillige Erfindung der Menschheit, sondern gehören zu deren Evolution wie alle übrigen Einflüsse und Wandlungen der Evolution. Zu diesem Thema habe ich mich schon geäussert in meinem kleinen Buch «Destruktionstrieb und Transzendenz». Eine Umstellung des Denkens würde der Menschheit Freiheit und Frieden bringen können, darf aber kaum erwartet werden.
Sind wir einfach verurteilt, Zeugen der Abwärtsfahrt der Natur zu sein, oder können wir dennoch eingreifen? Es kann nur vermutet werden, dass der Mensch doch über einen Freiraum besitzt, um auf die Evolution und den Prozess der Autodestruktion Einfluss zu nehmen. Dazu bedarf es aber auch ausser­gewöhnlicher Umstände. Die Existenz des Leben­s auf dem Planeten und die Zukunft der Menschheit stehen auf dem Spiel, und eine Änderung der Richtung ist kein Kinderspiel und bedarf eines deus ex machina. Es braucht der Vision einer neuen Welt von morgen und die Bereitschaft unendlich grosser Opfer. Viele sogar kleine Entscheidungen, die aber in die gute Richtung gehen und einen Stein ins Rollen bringen könnten, scheitern an der Furcht vor ökonomischen Umstrukturie­rungen und Einbussen. Wie viel Hoffnungen könnte uns ein Eidgenössischer Klimanotstand bringen, welcher nicht nur zur Täuschung verwendet wird wie lokale Massnahmen.
Im Laufe der Geschichte der Menschheit und in deren Krisensituationen hat es oft einzelne Menschen gegeben, welche sozusagen die ganze Menschheit vor grösserem Unglück ­bewahren konnten. In der jüngsten Geschichte war Winston Churchill ein solcher Mensch, welcher uns gegen die Barbarei schützen konnte. Gegenwärtig lässt dieser Retter der Natur und der Menschheit noch auf sich warten, denn die Konstellation der Einfluss ausübenden geschichtlichen Faktoren ist sehr viel komplexer geworden. Überhaupt hat sich die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg sehr verändert, nicht zu Gunsten individueller Freiheit und Einflussnahme. Dennoch darf man den Mut nicht aufgeben und auf einen Zufall hoffen, der den Funken mutiger Einsicht überspringen lässt bis zu einem Zusammenschluss der Menschen, um die Opfer zu bringen, die nötig sind, um den Selbstzerstörungstrieb der Natur und der Menschheit aufzuhalten. Wenn diese Hoffnung erlischt, wird der gegenwärtige Lebenszyklus sein natür­liches Ende finden.
Herzliche Grüsse