Grenzen der Biowissenschaften

Eine neue Biophilosophie – ein neues Menschenbild?

Horizonte
Ausgabe
2020/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18540
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(09):314-315

Affiliations
Dr. med., MAS Philosophie und Medizin, Mitglied des Forums Medizin und Philosophie, Mitglied FMH

Publiziert am 26.02.2020

«Die Sprache der Physik ist die Mathematik», sagte ein leitender Theoretiker des CERN anlässlich eines Vor­trags vor Philosophen. Man kann diese Aussage erweitern: Mathematik ist das Gerüst naturwissenschaftlichen Denkens. Die ersten grossen Physiker und Astrologen der Neuzeit glaubten, dass Gott ihnen durch die Mathematik einen Einblick in seinen Schöpfungsplan gebe. Die Mathematik hat der Physik, den Natur- und später den Biowissenschaften eine Methode in die Hand gegeben, die auch dann noch immer erfolgreicher wurde, als Gott längst nicht mehr im ­Gespräch war. Sie ist im Begriff des Reduktionismus zusammengefasst, was freilich das ihr inhärente Pro­blem schon andeutet: Es handelt sich um eine reduzierte Sicht auf die Natur. Die Mathematik definiert das ­Wesen des untersuchten Gegenstands durch seine Allgemeinheit und seine Manipulierbarkeit, denn nur so wird er messbar. Seine Allgemeinheit bedeutet, dass er von jeder Partikularität abstrahierbar sein muss, und seine Manipulierbarkeit, dass er zum Funktionsträger innerhalb eines Systems wird, das experimentell prüfbar und dem eine Theorie hinterlegt ist. Auch in der Biologie hat das nicht Messbare kaum Relevanz.
Durch die Abstrahierung werden die einzelnen Objekte vollkommen austauschbar. Sie sind invariant und haben keine andere Beziehung zueinander als die rationale, die ihnen die Theorie zudenkt. Sonst hätten Physik, Chemie, Biochemie und die auf ihnen beruhende naturwissenschaftliche Medizin keine Grundlage. Indessen übersieht man leicht, dass dadurch die Abstrakta, die Universalien, gleichsam ontologisiert, uns also als «die Realität» vorgestellt werden. In derselben Logik haben wir anzunehmen, dass sich die Lebensvorgänge in Systemen selber organisieren. Im Begriff der Selbstorganisation seien die Geheimnisse des ­Lebendigseins gleichsam enthalten. Damit sind sie noch nicht verstanden. Es gibt zwischen dem, was man als Leistung des organismischen Systems untersucht und den Prozessen «in naturam» einen Unterschied: Die systemischen Prozesse werden im Labor untersucht, wo man, um ihre Funktionen zu erkennen, Randbedingungen setzt – setzen muss und auch entsprechend variieren kann. In der Natur jedoch muss der Organismus sich die Randbedingungen selbst geben. Für die natürliche Dynamik zeigen aber die ­mathematischen Formalismen überraschenderweise eine Unmenge physikochemischer Möglichkeiten auf, von denen nur wenige biologisch sinnvoll sind. Der ­Organismus scheint die Fähigkeit zu haben, die wenigen Verläufe zu wählen, die sein Überleben garan­tieren. Das setzt eine Urform von Kreativität voraus, die mathematisch nicht weiter analysierbar ist.
Zu einem ähnlichen Schluss gelangt man, wenn man das Problem aus der Perspektive der Entropie betrachtet. Organismen können Energie sehr selektiv aufnehmen und diese in sich integrieren. Leben «exportiert» durch seine Strukturbildung Entropie, wohingegen anorganische Strukturen dazu verurteilt sind, «blind» Energie oder energetische Stoffe und damit Entropie aufzunehmen. Die Organismen haben demgegenüber gestalterische Möglichkeiten. Sie «erleiden» nicht eine (physikalische) Umgebung, sondern sie gestalten eine (biologische) Umwelt. Das ist wiederum ein kreatives Moment, das mathematisch nicht erfasst werden kann.
Die Voraussetzungen, auf denen Biowissenschaften be­ruhen, machen es also selber unmöglich, das Wesen des Lebendigen zu erfassen. Man ist an ein Wort von Kant erinnert, dass es den «Newton des Grashalms» wohl nicht so bald geben werde.

Die Erfindung des Lebens

Der Begriff der Kreativität löst in der naturwissenschaftlichen Forschung eine gewisse Irritation aus. Er verträgt sich nicht mit dem Gedanken an ein Gesetz, das allem hinterlegt sein müsste, nämlich das Gesetz von Wirkursachen, die im Experiment geprüft werden können. Ein solcher Determinismus erreicht die Prozesse des Lebendigen jedoch nicht. Denn er übersieht, dass Leben laufend durch instabile Momente navigiert. Die oben erwähnten, intern zu kontrollierenden Randbedingungen weisen nämlich Fluktuationen thermischer und quantenphysikalischer Natur auf, die der Unschärfe unterliegen und infolgedessen durch automatische, evolutiv erworbene Mechanismen der Rückkoppelung nicht kontrollierbar sind. Der Organismus muss deshalb auch als eine fortwährende Such­­-
be­wegung nach biologisch sinnvollen Möglichkeiten betrachtet werden. Das bedingt, dass er Entscheidungen fällt, was wiederum eine präreflexive Subjektivität ­voraussetzt. Solches ist nur denkbar, wenn seine Entitäten in internen Relationen zueinander stehen, also einander nicht bloss blinde Wirk-, sondern auch Zweck­ursache sind. Dem Begriff des Zwecks haftet etwas Metaphysisches an, das nicht in eine Theorie passt, in der es nur äussere, mathematische, aber keine inneren Relationen gibt. Es führt aber kein Weg an der Tatsache vorbei, dass ein suchender Organismus über eine nicht weiter analysierbare Kreativität verfügt. So kehrt das Mentale, das so lange aus den Naturwissenschaften ausgesperrt war, in sie zurück: als ein Spürsinn des Lebendigen.
Es gibt kein Leben ohne Erleben. Es ist keine rational ablaufende Kausalkette, sondern ein fortlaufender Vollzug, der in seinem «Momentum», in welchem er sich gleichermassen für das Potenzielle öffnet, alle Determinierungen, alle evolutiven Erfahrungen übersteigt. Wer dieses Momentum erforschen will, muss auf sich selbst bedingende Werdeakte achten und die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Natur heute noch nicht genau weiss, was sie morgen tun wird. Man kann einwenden, dass in dieser Sichtweise die menschliche Erfahrung der Natur angedichtet werde. Sie ist allerdings keine esoterische, sondern das Ergebnis naturwissenschaftlich-philosophischer Arbeit [1].

Ein neues Menschenbild?

Die obigen Ausführungen haben eine unterschwellige Botschaft: Naturwissenschaftliche Forschung ist nicht «ein Blick von nirgendwo» (Thomas Nagel) auf den Organismus, die Natur, den Menschen oder den Planeten. Zwar können wir im Labor sogenannte offene Systeme herstellen, in denen wir die Parameter variieren, aber das versperrt uns gleichzeitig den Blick in die Geheimnisse des sich selbst organisierenden Systems, das der Or­ganismus, die Natur, wir selber sind. Man müsse die Natur sein, um sie zu erforschen, hatte schon unser Kollege Viktor von Weizsäcker gesagt. Der Begriff des Menschen-Bilds ist deshalb problematisch. Man kann den Menschen nicht «wissen», indem man sich ein Bild von ihm macht. Das Wissen entsteht im Erleben. Das bedeutet nicht die Aufgabe objektiver Forschung. Objektivität ist auch in einer «Welt von innen» möglich. Sie entsteht in der Enttäuschung der Subjektivität, wenn die Welt fremd und äusserlich und ein Gegenüber wird, was uns zuletzt zum Wir befähigt. Objektivität ist nicht eine Erfindung des Reduktionismus, sondern gehört zur menschlichen Entwicklung. Dennoch kehren wir immer wieder zurück zu unserer ersten Stunde, zum noch nicht gewussten, aber gefühlten ­Leben. Dort sind auch die ersten Wurzeln der Erkenntnis. Erkenntnis geschieht nur im Vollzug, der uns die Welt verwandelt. So gesehen ist das Leben selbst ein sokratischer Erkenntnisprozess, den man nur in einem Wechselspiel von Subjektivität und Objektivität fassen kann.
Damit wäre auch etwas gesagt zum Geist-Körper-Dualismus in unserem Menschenbild, der für Philosophen interessant, für praktische Ärztinnen und Ärzte aber eigentlich ein Unding ist. Wir begegnen, wie wir es im Begriff des Biopsychosozialen auszudrücken versuchen, dem Menschen immer als einem Ganzen. Wenn nun eine Protokognition, eine subjektive In-
stanz und damit das Mentale von der Natur nicht zu trennen sind, dann ist ihre Ganzheit zurückgewonnen. Dann wäre auch der exakte Naturwissenschaftler nur dann wirklich genau, wenn seine Objektivität mit dem verschwimmt, was sich nicht abstrahieren, nicht mathematisieren lässt: der Spürsinn des Lebens. Leben richtet sich wohl nach der Summe seines Erfahrungsschatzes, aber es geschieht eben auch. In seinem Vollzug steigt es über jede Determinierung hinaus. Dieses Prozesshafte zu erkennen hilft uns, Psyche und Soma wieder zusammenzubringen.
Thomas Schweizer
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1 Spiridon A. Koutroufinis: Organismus als Prozess – Begründung einer neuen Biophilosophie, München, Freiburg: Verlag Karl Alber, 2019, 744 S. (diese Zusammenfassung der neusten systembiologischen Grundlagenforschung und der gleichzeitigen Würdigung der philosophischen Ansätze von Henri Bergson und Alfred N. Whitehead hat als Grundlage des vorliegenden Aufsatzes gedient.)