Das Staunen aus interdisziplinärer Sicht

Horizonte
Ausgabe
2020/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18547
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(07):233-234

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Mitglied FMH

Publiziert am 11.02.2020

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wann haben Sie ­eigentlich das letzte Mal so richtig gestaunt? Damit meine ich nicht die kontemplativen Momente ästhe­tischen Wohlgefallens oder die ultimativen Kicks ­lautstark angepriesener, brandneuer Features und stunning adventures. Vielmehr denke ich dabei an ­Augenblicke des sprachlosen Innehaltens angesichts der Existenz von Fremdem und Unbekanntem. An ­einen ambivalenten Gefühlszustand zwischen Verunsicherung und Neugier. Wir Ärzte und Ärztinnen erleben solche speziellen Momente etwa bei Beginn des Studiums, als Novizen in einer Intensivpflegestation oder auch angesichts der ersten Patienten, für die wir uns ganz allein verantwortlich fühlen. Sicher wundern wir uns auch später noch über die Fülle von Über­raschendem und Unerwartetem, das unser Mediziner­leben mit sich bringen kann, doch das Sprichwort sagt es: Der Fachmann staunt nicht mehr. Ist dies nun als Zeichen beruflicher Emanzipation zu begrüssen oder sollen wir im Gegenteil dazu Sorge tragen, das Staunen nie ganz zu verlernen? Um diesen Zwiespalt etwas auszuleuchten, lohnt es sich bestimmt, bei unseren intellektuellen Vorfahren anzuklopfen.

Philosophische Aspekte

Für viele Philosophen gilt das Staunen ganz allgemein als Morgenröte unseres Bewusstseins – als initiales ­kognitives Erlebnis schlechthin. In diesem einmaligen Zeitpunkt werde sich der Mensch urplötzlich des eigenen Daseins und damit auch der Gegenwart einer ihm fremden Aussenwelt bewusst und beginne daher Fragen zu stellen: nach der Beschaffenheit der Natur und dem Warum aller Existenz.
So hat denn Thomas von Aquin (1225–1274) das Staunen auch als «Sehnsucht nach Wissen» bezeichnet, als unvoreingenommenes Offensein für Neues und Unerforschtes. In diesem Sinne könnte es sich also durchaus lohnen, diese exquisit menschliche Fähigkeit das berufliche Leben lang zu pflegen: als ur­sprünglich-vorwissenschaftlichen Zugang zum Patienten und als steten Stimulus zur Optimierung der eigenen Kenntnisse.
An der Strandpromenade in Menton, Frankreich (© Jann ­Schwarzenbach).

Gastrologische und literarische Aspekte

So schön das auch klingen mag – es entspricht leider nicht immer der Praxis. Da kann das Staunen nämlich echt pathologische Formen annehmen. Dies möchte ich jetzt mit einem klinischen Fallbericht erläutern: Es geht dabei um den Patienten M. R., einen jüngeren Mann, der während eines Aufenthalts in der tiefen französischen Provinz von einem bisher unbekannten Leiden befallen wird. Das Leitsymptom besteht in wiederholten Episoden unkontrollierbarer Übelkeit an­gesichts einer ganzen Reihe von Gegenständen. Eine Schwangerschaft ist beim damaligen Stand der Medizin ausgeschlossen. Laborwerte, Schädel-CT, Abdomen-US und Gastroskopie wären wohl unauffällig ausgefallen. Ja, Sie haben es erraten: Die Lösung des Quiz liegt im psychosomatischen Fachgebiet. M. R. wird sich dessen schliesslich auch selber bewusst. Eines Tages steht er nämlich staunend vor dem hypertroph erscheinenden Wurzelwerk eines Parkbaums und begreift plötzlich die Ätiologie und Pathogenese der mysteriösen Krankheit: Es ist die aufdringliche, blosse Präsenz der Dinge, die seinen Brechreiz auslöst. Schuld sind die Gegenstände und Gegebenheiten, die in ihrer ganzen Zufälligkeit und Sinnlosigkeit einfach nur existieren. Wer im Französischunterricht ein wenig auf­gepasst hat, wird unschwer erkennen, um welchen ­Patienten es sich handelt. Ich verletze also kein Arzt­geheimnis: Es ist Monsieur Roquentin, der Protagonist aus Jean-Paul Sartres (1905–1980) Erzählung La Nausée. Unser Held geht nun weder in die Apotheke noch in eine Psychotherapie, sondern setzt auf prämiensparende Selbstversuche. Er spürt nämlich eine regel­mässige Linderung, wenn er sich darum bemüht, die Dinge, deren schiere Existenz ihm Übelkeit bereitet, in eine von ihm geschaffene Form und einen selbstgefertigten Zusammenhang zu bringen. So findet er denn ein rezeptfreies Medikament zur Behandlung seiner Nausea: Er beschliesst, einen Roman zu schreiben. Wie wir aber alle wissen, wirken Antiemetika nur symptomatisch. Dies gilt auch für die Schriftstellerei: Sie lässt die überbordende, lästige Vorhandenheit der Welt und ihrer Dinge erträglicher erscheinen, indem sie diese in einen subjektiven Zusammenhang stellt und in einer Art ästhetischer Notwendigkeit rechtfertigt. Sie verleiht ihnen aber damit noch lange keinen natur- oder gar gottgegebenen, tieferen Sinn. Roquentins Grundleiden – die gefühlte Überflüssigkeit allen Daseins – bleibt somit unheilbar.

Eine erstaunliche Sonntagslektüre

Eingangs haben wir das Staunen unter philosophischen Aspekten kennengelernt: als neugierig-erwartendes Innehalten angesichts von Unbekanntem, das dann alsbald der «Sehnsucht nach Wissen» Platz macht. In der darauffolgenden klinischen Fallvorstellung geht es um eine pathologische Variante unseres Phänomens: um die lästige Übelkeit angesichts der blossen Präsenz von Gegenständen und Gegebenheiten. Diese «gastrologische» Art des Staunens lässt sich aber nur literarisch und nicht mit Wissenserwerb überwinden: Ihre Ursache ist nämlich gerade die Einsicht in die Unberechenbarkeit und Unbegründbarkeit der einzelnen Dinge – in die absurde Nichtigkeit jeder Existenz. Das hätte für die Medizin nun einen gewissen Vorteil: Wenn nichts einen besonderen Wert hat, gibt es auch im Leiden keine Hierarchie. Von dieser ­solidaritätsstiftenden Auswirkung einmal abgesehen, wäre die Krankheit von Sartres Romanhelden für uns Ärzte und Ärztinnen aber schlichtweg deletär. Stellen Sie sich doch vor, Ihr Alltag widersteht Ihnen plötzlich: die zuckerkranke Frau Schlemmer, der Herr Rauchenoch mit seinem Emphysem, die panalgischen Doktor-Hopper und die Willensrentner, die es im Kreuz haben. Unvermittelt finden Sie allesamt – volksfern gesagt – einfach zum Nauseakriegen. So lange jedenfalls, bis Sie beginnen, die fachmännische Anamnese zu erheben, oder – poetischer ausgedrückt – bis Sie jeden Einzelnen seine eigene Geschichte erzählen lassen, um diese dann dort abzulegen, wo auch das Unzulängliche und das Widersinnige ihren Platz und ihre Berechtigung haben: in der persönlichen Krankenakte. In einem der Romane, an denen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein berufliches Leben lang schreiben. Nehmen Sie sich doch wieder einmal einen solchen Praxiswälzer vor – als Sonntagslektüre vielleicht. Sie werden sicher Besinnliches und Erstaunliches darin finden und können somit die eingangs an Sie gerichtete Frage gleich mitbeantworten.
Dr. med. Jann P. Schwarzenbach
Medicina generale
Via Guidino 9
CH-6900 Paradiso
jann.schwarzenbach[at]gmail.com