Man könnte einmal Nein sagen (mit Replik)

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18572
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(03):57-58

Publiziert am 15.01.2020

Man könnte einmal Nein sagen

Frau Ritzmann beschreibt einen deutlich ­erkrankten, antidepressiv behandelten Kol­legen. Sie publiziert diesen Bericht kom­mentarlos. So wurden wir Ärzte/-innen eben sozialisiert: Wir können uneingeschränkt 24 Stunden Notfalldienst leisten, 36 Stunden am Stück arbeiten, 80 Stunden pro Woche Patienten behandeln, nachts Berichte schreiben, etc. etc. Dass dies nicht gut herauskommt, zeigen die Raten von Burn-out, Scheidungen und Suiziden bei Ärzten.
Diese missglückte Sozialisation von uns Gesundheitsexperten/-innen findet ihren Niederschlag freilich auch in unserem Tarif. Müssig wird über 97 oder 102 Rappen Taxpunktwert gefeilscht, wo der betriebswirtschaftliche Rahmen bei 150 Rappen1 liegen sollte. Der finanzielle Mehrbedarf liesse sich leicht decken durch den Wegfall der gänzlich nutzlosen Kassenwechsel.2 Durch Festlegung ­einer Einheitsprämie werden Kassenwechsel nur noch bei schlechtem Service des Versicherers notwendig. Wenn sich der zeitliche Aufwand für die Behandlung eines Patienten ­anscheinend standardisieren lässt, dann erst recht die Prämie für die Grundversicherung.3
Unterstützt wird diese Groteske von MARS und ähnlichen statistischen Erhebungen.4 ­Unter Androhung erheblicher Strafen aus den ­eigenen Reihen werden sie erpresst. Angeblich für einen besseren Tarif. Dass das Zahlenmaterial längst und seit Jahren bei den ­Behörden vorliegt (AHV-Abrechnungen, Steuererklärung mit Betriebsabrechnung) bzw. durch eine Durchschnittserhebung wesentlich ressourcenschonender zu erhalten wäre, ist für uns offenbar unerheblich. Freimütig und servil verschleudern wir unsere Ressource Zeit. Ein weiterer Beitrag zum Mangel an Grundversorgern (u.a. Hausärzte, Psychiater, Pädiater).
Das sich einschleichende Globalbudget befürworten wir, denn wir machen ja nichts dagegen. Mit fadenscheinigen Plakaten versuchen wir, die Bevölkerung von unseren hehren Absichten zu überzeugen, z.B. sich Zeit zu nehmen. Der Tarif hat aber eine Zeitlimite. Die Kassen mahnen Überschreitungen ab. Heisst: Gratisarbeit, nur nichts anmerken lassen, nicht auffallen in der Öffentlichkeit.
Im Interesse einer guten Patientenversorgung und unserer eigenen Gesundheit sollten längst fällige Schritte erfolgen. Zum Beispiel könnte man einmal Nein sagen. Die Tarif­gestaltung muss unsere eigene Gesundheit berücksichtigen. Wir sollten unsere komplexe Aufgabe in einer gesunderhaltenden Weise ­erfüllen können. Nicht als kranke Ärzte und Ärztinnen, wie im «Schnuppertag». Die Initiative kann nur aus den Standesorganisationen kommen, s.a. Verhältnisse in ­Nachbarländern.

Replik zu: «Man könnte einmal Nein sagen»

Ich freue mich sehr über die zahlreichen und absolut unterschiedlichen Reaktionen und den jetzigen Leserbrief. Offenbar hat mein Beitrag viele Kolleginnen und Kollegen zum Nachdenken angeregt, vielleicht gerade weil ich meine eigenen Schlussfolgerungen nicht formuliert habe. Sie haben nun selbst, in völlig verschiedener Weise, ein Fazit gezogen. Es ist an mir, mich für diese anregenden Überlegungen zu bedanken!