Und es lohnt sich doch!

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18579
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(09):318

Affiliations
Lic. phil. I, M.A. Soziale Arbeit, Kompetenzzentrum für Seh- und Hörbehinderung im Alter

Publiziert am 26.02.2020

«Bin ich froh, hast du mir das mit dem Charles-Bonnet-Syndrom erzählt, das hat mir so geholfen», berichtet eine Bekannte. Ihre 85-jährige Mutter lebt mit einer fortgeschrittenen Alterskorrelierten Makuladegeneration (AMD) in einem Alterszentrum. Beim gemeinsamen Einkaufen wurde die Mutter plötzlich unsicher und klammerte sich an den Arm der Tochter, weil sie Löcher im Asphalt sah. Löcher gab es dort aber keine. «Ich wäre klar davon ausgegangen, dass meine Mutter jetzt dement wird. Vergesslich ist sie ja schon lange. Und ich hätte nicht gewusst, ob ich ihr sagen sollte, dass es da keine Löcher gibt. Sie hat ja selber so Angst davor, dement zu werden.» So konnte sie ihre Mutter beruhigen, ihr erklären, dass solche visuellen Halluzinationen bei Sehschädigung häufig auftreten, dass sie einem Phantomschmerz entsprechen und nichts mit Demenz oder Psychose zu tun haben. Den Mitarbeitenden im Alterszentrum war das unbekannt.
In unseren Schulungen im Langzeitpflegebereich zu Seh- und Hörbeeinträchtigungen im Alter werben wir intensiv dafür, dass auch ältere und hochaltrige von ­einer Sinnesschädigung Betroffene motiviert werden zum aktiven, auch rehabilitativen Umgang mit ihrer Beeinträchtigung. Meistens ist weder den Betroffenen selbst noch dem Umfeld bewusst, welche negativen Folgen die Schädigung direkt oder indirekt auf gesundheitliche und pflegerelevante Themen im kognitiven, emotionalen, funktionalen und psychosozialen Bereich haben kann. Zudem wollen viele ältere Menschen Einschränkungen nicht zugeben: ja nicht zur Last fallen, keine zusätzlichen Kosten verursachen. So verzichten sie auf augenärztliche Untersuchungen und rehabilitative Massnahmen, «das lohnt sich doch nicht mehr».
Fatal wird es, wenn das Umfeld die Bedenken der Betroffenen verstärkt. Zur wichtigsten Form der Unterstützung gehört das Vermitteln der Überzeugung, dass die Situation auch bei eingeschränkten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten der Sehschädigung selbst verbesserbar ist, dass auch hochaltrige Personen den Umgang mit der Beeinträchtigung lernen können und dass sie ihre Selbständigkeit weitgehend bewahren können – bei allem Verständnis dafür, dass der Verlust von Sehkraft nicht einfach und der Alltag mit einer Sehbeeinträchtigung anstrengend ist.
Gezielte Trainings oder nur schon eine Umfeldanpassung können die Selbständigkeit und den Allgemeinzustand deutlich verbessern. Eine Spitex-Klientin mit Sehbehinderung benutzt zum Beispiel den eigenen Kochherd wieder selbst und überlässt das nicht mehr den Spitex-Mitarbeitenden, seit sie gelernt hat, die neu angebrachten taktilen Markierungen am Kochherdschalter zu nutzen.
Bereits mit wenigen, einfachen Massnahmen können negative Wirkungsketten durchbrochen werden. Führt die Sehkrafteinbusse beispielsweise dazu, dass die Person sich draussen unsicher fühlt und schlecht orientieren kann, in sozialen Kontakten zunehmend Schwierigkeiten hat, auf den Verlust depressiv reagiert, sich vermehrt zurückzieht, dadurch Bewegung und Aktivitäten reduziert, hat das auch Folgen auf Kreislauf, Bewegungssicherheit, kognitive Leistungen und Lebensqualität. Ein Orientierungs- und Mobilitätstraining setzt an einem dieser Punkte an, führt aber zu Verbesserungen in allen Bereichen. Unterstützung in der Selbstorganisation und Trainings bieten die Beratungsstellen des Sehbehindertenwesens oder geschulte Fachpersonen der stationären und ambulanten Langzeitpflege.
Mit Einschränkungen aktiv zu bleiben und Neues zu lernen ist zwar anstrengend und kostet Energie, stärkt aber auch kognitive Fähigkeiten und wirkt allgemein Alterungsprozessen entgegen. Dabei sind soziale Massnahmen und Trainings meistens wirksamer als technische Hilfsmittel.
Noch ein Beispiel? In eine spezialisierte Alterseinrichtung tritt ein 82-jähriger Mann mit Sehbehinderung ein. Er verlässt das Zimmer nicht mehr, liegt vorwiegend im Bett und weigert sich strikt, am Gemeinschaftsleben teilzunehmen. Das Leben habe so keinen Sinn mehr. Alle Motivationsversuche der Mitarbeitenden lässt er ins Leere laufen, aber diese geben nicht auf. Ein halbes Jahr später besinnt er sich um. Er steht auf, beginnt bei Gruppenaktivitäten mitzumachen, im Speisesaal zu essen, nimmt sehbehinderungsspezifische Rehabilitation in Anspruch – und verliebt sich in eine Mitbewohnerin, mit der er später zusammenzieht. Lohnt es sich noch? Aber sicher!
magdalena.seibl[at]ksia.ch