Arbeitswegassoziationen

Horizonte
Ausgabe
2020/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18598
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(12):444

Affiliations
Dr. med., Leitender Arzt PPZ

Publiziert am 17.03.2020

Das Wetter ist noch herbstlich warm, ich wage es, mit dem Velo die 20 km lange Strecke zur Arbeit nach ­Zürich zu fahren, entlang der sogenannten Goldküste. Doch zunächst gilt es, den Bedürfnissen des Katers ­gerecht zu werden. Obwohl er all meine Angebote, von Trocken- bis Nassfutter und verdünnter Milch, genossen hat, lässt er nicht locker. Sein Schnurren und Schmiegen verlangen eine Streicheleinheit-Plus. Es geht um das Stillen zwei grundlegender Bedürfnisse: ­Hungergefühl und emotionale Zuwendung. Beim ­Hunger handle es sich um ein Individualbedürfnis, der Wunsch nach Zuwendung hingegen sei ein Kollektivbedürfnis.
Bei Plus kommt mir das Menü-Plus unserer Personalcafeteria in den Sinn, bei dem nur regional produzierte Nahrungsmittel zur Verwendung kommen. Die übrige Auswahl ist global, darunter befinden sich auch in Plastik verpackte Produkte mindestens zweier nahrungsmittelproduzierender Giganten, welche einen erheblichen Anteil der Plastikinseln in den Ozeanen oder an Europas Küsten verursachen. Wer sich dafür interessiert, wird es leicht den aktuell fast täglich in den Medien zu findenden Schlagzeilen entnehmen können. Berichte über die ankommenden Flüchtlinge an Europas Küsten sind ja schon längst von anderen Themen verdrängt worden, die Buschfeuer in Australien überragen derzeit die durch Bombenhagel brennenden Städte in Syrien und Yemen. Die durch Menschen verursachte Klimaveränderung bringt vieles durch-
einander, auch die Naturzyklen. Bleibt zu hoffen, dass vielleicht irgendeinmal der weltweite Kriegszyklus zum Stehen kommt.
Auf der Velofahrt entlang der Goldküste, vorbei an der Swiss International School, Lake Side School, KidsAtLake, aber auch den Jugendstilhäusern, werde ich hin und wieder durch «Profi-Velofahrer» rechts liegen gelassen, aber auch von grossen Schlitten der Oberklasse, worin selten mehr als eine Person Platz zu finden scheint. Fast alle weisen ein «Eco» oder «Blue» vor dem Modellnamen auf, was himmlisch und sauber scheint, ganz im Sinne der aktuellen Umweltdebatte. Für manche scheint es jedoch zu genügen, die Gewissensprobleme zu beruhigen, eine 2,5-Tonnen-Maschine für die Beförderung von 80 Kilo in Gang zu setzen.
Aber warum nicht bei sich selbst beginnen: Das Prak­tikum in Südamerika hätte vielleicht auch nicht sein müssen. Wir suchen ja mittlerweile nicht nur urlaubsbedingt die Ferne, sondern auch beruflich. Die Weltumrundung zur Selbsterfahrung gehört mittlerweile für sehr viele Schulabgänger dazu, auch nach der Pensionierung ist es mittlerweile die Regel. Nicht ohne Grund gelten wir Schweizer als Vielflieger-Nation (9000 km/Jahr), nebenbei wollen wir aber auch die 2000-Watt-Gesellschaft erreichen. Wenn wir aber die Emissionen nur bis zur Nationalgrenze berechnen, ist das ein realistisches Ziel, abgesehen davon, dass wir die drei Tonnen CO2/Person für so einen Langstreckenflug locker mit dem Umstieg von Zug auf Velo innerhalb von zwei Jahren kompensieren können!
Vorbei am Anwesen von Tina Turner ist es aber schon aus mit dem «Endorphin Kick», spätestens bei Kids­AtLake sehe ich schon meine Agenda vor den Augen. Zu Beginn Herr K., welcher unermüdlich mit der Job-Karte seinen Schuldwahn abarbeiten will, und danach eine Geflüchtete aus Asien mit ihrem Säugling, deren Ehemann und zwei Kleinkinder in Moria (GR) auf eine Familienzusammenführung warten.
Vielleicht wäre es nicht nötig gewesen, eine Reise nach Südamerika zu unternehmen, um die Extreme des Lebens in mancher Hinsicht zu erleben oder sich selbst zu erfahren, wo doch so manches auch schon vor der Haustür bei näherem Betrachten zu sehen ist. Ob es die Selbsterfahrung wert war, so viel CO2 für die weite Reise nach Südamerika zu verantworten?
Ich pendle zwischen Avicenna1 («Laufe in Sandalen, bis dass Dir die Weisheit Schuhe einbringt») und ­Dostojewski2 (Warum so «viel Lärm um nichts», wegen dem man leicht für dumm gehalten werden könnte!).
Die «Walche-Arkade» aus der Ferne erblickend, freue ich mich, den Velohelm wieder abnehmen zu können. Abschliessend sei noch bemerkt, dass bei diesem Text keinerlei Interessenskonflikte bestehen, und wenn, dann ausschliesslich zu mir selbst.
Dr. med. Mehdi Safavi
seyedmehdi.safavi[at]
zuerich.ch