Das 21. Forumsanté in Bern

Gesucht: ein neues Selbstverständnis

Weitere Organisationen und Institutionen
Ausgabe
2020/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18610
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(07):209-211

Affiliations
Freier Journalist und Fotograf, Medientrainer, Bern

Publiziert am 11.02.2020

Die Zeiten ändern sich – und die Ärzteschaft versucht, Schritt zu halten. Wie ändert sich ihr Rollenverständnis? Wie präsentiert sich künftig ihr Berufsbild? Dies die Leitfragen an dieser abwechslungsreichen Tagung in Bern. Die Mitteilung am Schluss, dass es die letzte in dieser Form war, löste einige Betroffenheit aus – aber wenig Erstaunen.
Der Druck der Ökonomie, «der wirtschaftliche Wahnsinn», wie sich Bertrand Kiefer, Chefredaktor der Revue Médicale Suisse, ausdrückte, kam im Hotel Bellevue immer wieder zur Sprache. Ironie des Tages: Der Anlass, der in den vergangenen 20 Jahren für solch zentrale Themen regelmässig eine prominente Plattform geschaffen hat, fällt jetzt der Macht des Mammons selbst zum Opfer. Im Bemühen, die geltenden – auch eigenen – ethischen Richtlinien einzuhalten, habe er nicht mehr genügend Sponsorengelder auftreiben können, sagte der Präsident des Forums, Jacques de Haller. «Deshalb war dieses Feuerwerk auch ein Schlussbouquet.»
Bundesrat Alain Berset eröffnete das 21. Forumsanté.

Zusammen arbeiten, nicht neben­einander

Der Gesundheitsminister himself eröffnete den Reigen der renommierten Referenten, und Alain Berset nannte gleich zwei zentrale Elemente, die die rasanten Veränderungen beim Berufsbild «Ärztin/Arzt» bestimmen: Digitalisierung und demografischer Wandel. Der Lauf der Zeit sei nicht aufzuhalten, philosophierte ein gutgelaunter Bundesrat, es gelte, diesen «strategisch intelligent zu begleiten». Politisch seien insbesondere die Kantone gefordert: «Wir bilden viel zu wenig Ärztinnen und Ärzte aus in der Schweiz.»
Bezüglich Digitalisierung seien die Kompetenzen bei den medizinischen Fachleuten noch zu wenig entwickelt, dies zeige eine OECD-Studie. Gefragt sei aber auch eine neue Verteilung der Aufgaben im Gesundheitswesen und mehr Koordination.
In eine ähnliche Richtung ging Daniel Scheidegger, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. «Wir arbeiten nicht zusammen, sondern nebeneinander», sagte er mit Blick auf die verschiedenen Disziplinen im Gesundheitswesen. Und er fragte: «Haben wir zu wenig Per­sonal – oder machen wir zu viel Medizin?» Seine Antwort: «Vieles von dem, was wir tun, ist unnötig. Der Patient hat auch ein Recht auf Nichtwissen.»
Scheidegger war es auch, der in seinem engagierten und amüsanten Vortrag die Verbindung zur aktuellen Klimadiskussion herstellte und die Vision einer nachhaltigen Medizin skizzierte – einer Medizin mit weniger Verschwendung, weniger Einwegmaterial, weniger Flugreisen. Seine rhetorische Frage dazu: «Ist das Gesundheits­wesen ein Wirtschaftsförderungsprogramm?»

Der Arzt als Unternehmer?

Eben, immer wieder die Rolle der Wirtschaft. «Die Kolo­nisierung unserer Lebenswelten durch die Ökonomie ist eine Tatsache», sagte Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes und Präsident des europäischen Ärztekomitees CPME. Deshalb befürworte er, im Gegensatz zu SAMW-Präsident Scheideg-
ger, wenn Mediziner zusätzlich einen MBA machen und so ihr Interesse für wirtschaftliche Aspekte des Gesundheitswesens manifestieren würden ̶ «ökonomische, nicht merkantilistische», wie er präzisierte. «Zu Unternehmern mit Bonus-Anreizen dürfen wir uns aber nicht machen lassen.»
Daniel Scheidegger, Präsident der Schweizerischen ­Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW.
Montgomery verkörperte den Geist der Tagung gut: ­Einige arrivierte Männer und eine arrivierte Frau verglichen die heutige Welt der Medizin mit derjenigen, aus der sie stammen, und sie versuchten daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. «Wir waren Halbgötter in Weiss, wir sind es nicht mehr», stellte Montgomery fest. Als Arzt im Rentenalter sei er, was die junge Ärzte-Generation angehe, voller Optimismus: «Die haben Recht mit ihrer Forderung nach mehr Autonomie und einer besseren Work-Life-Balance.»
Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes und Präsident des europäischen Ärztekomitees CPME.
Zum Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte äus­serten sich an diesem Forum praktisch alle auf dem Podium. So in seiner Einführung auch Jacques de ­Haller: «Unsere Stellung in der Gesellschaft, unsere Privilegien werden infrage gestellt – und wir sind in der Defensive.» Gesucht sei eine neue positive Identität, ein neues Rollenverständnis. De Haller sprach in diesem Zusammenhang vom Arzt als Gesundheitscoach.
SAMW-Präsident Scheidegger sagte dazu klipp und klar: «Die Zeit der grossen Gockel ist vorbei.» Es gebe Dinge, die andere mindestens so gut machen könnten wie ein Arzt. Das Bild, das diese Aussage illustrierte: ein Roboter, der eine Injektion macht.

Mensch und Maschine

Ein weiteres grosses Thema an diesem letzten Forumsanté war die Rolle der Technik, des Computers, die Macht der digitalen Daten, die Frage, ob Maschinen den Menschen dereinst gar ersetzen. Dazu Bertrand Kiefer, Arzt, Theologe und Journalist: «Zuhören und vermitteln: Das kann ein Roboter nicht.» Das Menschliche thematisieren, das Leiden, die Angst vor dem Tod, das könne nur ein Mensch – ein Arzt zum Beispiel. «Spitäler sind die Kirchen von heute», sagte Kiefer, Pflege sei kein quantifizierbares Produkt.
Christian Lovis, Direktor Medical Information Sciences an der Universität Genf, sprach pointiert und unterhaltsam über künstliche Intelligenz und Big Data. Er spielte Musik ab, die wie Bach und Beethoven tönte, aber vollständig von Maschinen produziert worden war und zeigte sich begeistert über diese technische Errungenschaft. Auf die Medizin und das Tagungsthema, die künftige Rolle von Ärztinnen und Ärzten bezogen, war er weit differenzierter und vorsichtiger. Künstliche Intelligenz in der Medizin sei wie ein Schwangerschaftstest, sagte er: ein Instrument, dessen Verlässlichkeit fragwürdig sei und dessen Resultate jemand mit der entsprechenden Kapazität einzuordnen, zu gewichten, zu interpretieren habe.
Sein Schlusssatz war denn wie ein Hoffnungsschimmer: «Solange es Menschen gibt, wird es auch Ärztinnen und Ärzte brauchen.»
Gesundheitsminister Berset im Gespräch mit Jacques de Haller, Präsident des Forumsanté.

Das Wichtigste in Kürze

• Am 14. Januar fand das 21. Forumsanté in Bern im Hotel Bellevue statt.
• Bundesrat und Gesundheitsminister Alain Berset eröffnete die Tagung als erster Redner.
• Diskutiert wurden Veränderungen im Berufsbild des Arztes bzw. der Ärztin aufgrund der Digitalisierung und des demografischen Wandels; weitere Themen waren die Vision einer nachhaltigen Medizin mit Hinblick auf den Klimawandel und die Rolle der Wirtschaft.
• Die Tagung wird im nächsten Jahr nicht mehr fortgesetzt, weil im Bemühen, die geltenden und auch die eigenen ethischen Richtlinien bezüglich Sponsoring einzuhalten, nicht mehr genügend Gelder aufgetrieben werden konnten.
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