Karten

Horizonte
Ausgabe
2020/13
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18635
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(13):479

Affiliations
Prof. Dr. med., Mitglied IKRK, Senior Botschafter und Neuroexperte, Rehabilitationszentrum Kliniken Valens

Publiziert am 24.03.2020

Bevor wir noch auf Reisen in das Unbekannte starten,
verschaffen wir mit Vorteil uns die besten Karten.
Die kleine, goldne Plastikkarte nehm ich immer mit:
sie schafft in jeder Lage, jeder Währung mir Kredit,
gewährt, dass man mir sogar dann noch glaubt,
wenn ich, wie jüngst in Buenos Aires, ausgeraubt.
Und eine Reihe weitrer Karten
bestimmt nach Plan die weiten Fahrten
im Flugzeug, Auto, Bahn und Bus,
so dass ich schon im Voraus wissen muss,
wohin, wodurch, wie lang die Reise geht –
und solches plan ich lieber nicht zu spät.
Denn was auf jeder Reise zählt,
ist, dass man sich die rechten Karten wählt.
Grad wenn man sagt, der Weg sei auch das Ziel,
erleichtern gute Karten schon im Voraus viel,
doch ganz besonders, wenn man schon auf Wegen ist
und wandernd – oder fahrend – unbekanntes Land durchmisst.
Ganz wichtig, dass man sich den rechten Massstab nimmt,
der auf der Reise Raum und Ziel bestimmt;
er ist dann wie ein Privileg,
das Grenzen setzt für Zeit und Weg.
Im Schnellzugstempo über Autobahnen brausend
nützt kein Verhältnis 1 : 50 000,
doch wird ein grosser Massstab dann nicht passen,
wenn wir auf dem Spaziergang kaum das Dorf verlassen.
Im Flugzeug braucht man andre Karten
als für die Neugestaltung seines Garten;
doch immer steckt im Worte «Grundriss» drin,
dass ich im Grund am Zeichensetzen bin.
Nun frag ich mich, auf welche Weise
ein Kind sich Karten bildet für die Lebensreise,
wie es die Zeichen setzt von Anfang an,
an denen es sich später orientieren kann.
Wir nehmen heut als selbstverständlich an,
dass man in sein Gehirn sich Zeichen setzen kann,
dass alles, was man durch die Sinnestore lässt,
dort im Gehirn – in uns – die Spuren hinterlässt,
die sich zu Mustern dann geheimnisvoll verbinden,
so wie die Pflüge sich durch Äcker winden,
bei denen ebenfalls bestimmend sind
die äusseren, gegebenen Faktoren
wie etwa Tempo, Stärke der Traktoren,
Beschaffenheit des Bodens, Wetter, Wind.
Im Kind ist viel davon genetisch vorgegeben
und prägt natürlich dann das weitre Leben:
es ist dies, wie’s der Dichter nennt,
das angeborene Talent.
Doch wird das Ganze noch vertrackter,
wenn wir erklären den Charakter,
denn dieser bildet sich im Strom der Welt,
den man als Lehrplatz sich erwählt.
Dabei kommt es entscheidend darauf an,
dass man erfasst, was man auch kann,
und auch erkennt, was man nur will –
denn dies setzt einem erst ein Ziel.
Beim Können ist, bei aller Verve,
uns motivierend als Reserve,
als Chance immer dies geblieben:
wir können – und wir sollen! – üben.
Denn wenn wir nur auf die Erleuchtung warten,
vergeben wir die besten Karten,
ganz gleich wie wenn wir nur auf Lorbeern ruhn,
anstatt mit Zuversicht Gewolltes auch zu tun.
Ich wähle, was ich durch die Sinne lasse,
und wähle, ob ich liebe oder hasse
und was und auch wie viel ich tue,
wie oft und auch wie lang ich ruhe.
Ein Vorbild dieses Rhythmus kann der Herzschlag sein,
der bis zum Lebensende sich bewährt:
die Systole nimmt etwa nur ein Drittel ein
und für den Rest die Ruhe sich das Herz begehrt.
Im Lebensraum setzt nun Erziehung erste Zeichen,
und diese werden bis zum Ende nicht mehr weichen.
Entscheidend wird, dass sie für uns als Marken zählen
und nicht ein Eigenleben führen und uns quälen.
Doch Letzteres wird unvermeidlich werden,
solang wir leben hier auf Erden,
wenn eine Ansicht absolut als letzte Wahrheit sich verkündet
und schon von Anfang an verflucht,
wenn einer seine eigne Ansicht sucht
und auf dem Weg die ihm gemässe Wahrheit findet.
Er wird dann nicht nur Altes wiederkäuen,
vielmehr mit Eigenem die Welt erneuen,
so dass die Spuren, die sich ins Gehirn gegraben,
am Werden neuer Muster Anteil haben.
Nun sagen uns die Pädagogen,
die uns als Kinder grossgezogen,
dass Grenzen setzen halt so wichtig sei,
denn nur in Grenzen würden Menschen frei.
Ich aber setze mir zum Ziel,
die Grenzen stetig zu erweitern,
durch Lernen, Üben, Arbeit, Spiel,
mich und die andern zu erheitern,
denn diese Haltung wirkt im Hirn wie Dünger,
durch den in uns sich eine Welt entfaltet,
wird lebenslang zu einem Zeigefinger,
der drauf verweist, wie sie sich neu gestaltet.
Und wären mir zwei Wünsche nur geblieben,
so wollt ich erstens lernen, recht zu lieben,
und zweitens, dass mir einer mir gemässe Karten ­mische,
damit nicht länger ich im Trüben fische.
Prof. Dr. med. Jürg ­Kesselring FRCP
Senior Botschafter und ­Neuroexperte
Rehabilitatioszentrum Kliniken Valens
Taminaplatz 1
CH-7317 Valens