Ein Nach-Corona-Märchen

«Thursdays for Future»

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18673
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2930):920

Affiliations
Dr. med., ehem. Generalsekretär SAMW, Basel

Publiziert am 14.07.2020

Als der grosse Schreck vorbei war, als die Patientinnen und Patienten wieder in die Arztpraxen strömten und in den Spitälern wieder operiert wurde, da realisierte eine junge Assistenzärztin am UniversitätsSpital Zürich, dass sich im Gesundheitssystem kurzfristig zwar vieles, langfristig aber nur wenig geändert hatte. Von Beschränkung auf Notwendiges war nicht mehr die Rede. Der Gesundheitszug hatte wieder in seine alten Geleise gefunden, und es machte den Anschein, dass er – wie vor der Covid-19-Epidemie – unausweichlich seinem Ende entgegensteuere.
Die Ärztin beschloss, gegen diese Entwicklung anzukämpfen. An einem Donnerstagnachmittag setzte sie sich vor den Haupteingang des Spitals und hielt in beiden Händen ein Schild, auf dem stand «Im Streik für die Zukunft des Gesundheitssystems». Dies tat sie auch am folgenden und am übernächsten Donnerstag. Beim dritten Mal wurden die Medien auf sie aufmerksam und interviewten sie. Die Ärztin hatte eine klare Botschaft: In seiner jetzigen Form habe das Gesundheitssystem keine Perspektive. Es sei offensichtlich, dass die Ressourcen, die das System in seiner heutigen Aus­prägung benötige, nicht unbegrenzt zur Verfügung stünden. Nötig seien ein Umdenken, der Verzicht auf Un­nötiges, die Fokussierung auf klare Ziele.
Die Resonanz auf die Presseartikel war überraschend und unerwartet: Plötzlich postierten sich jeweils am Donnerstag auch vor Spitälern in anderen Städten Leute in weisser, blauer und grüner Arbeitskleidung (also aus ganz verschiedenen Gesundheitsberufen) und hielten Schilder in die Höhe, auf denen stand «Für eine optimale, nicht eine maximale Medizin», «Weniger ist mehr» oder «Gesundheitskompetenz für alle». In den Medien hiess es, die Demonstrantinnen und Demonstranten seien überzeugt, dass die Zukunft des Gesundheitssystems nur dann gesichert sei, wenn die involvierten Akteure vertrauensvoll und auf Augenhöhe zusammenarbeiten würden, genau so, wie dies auch für eine gute Gesundheitsversorgung gelte.
In Anlehnung an die Klimabewegung war rasch von «Thursdays for Future» die Rede. Die Medien fanden heraus, dass der Donnerstag als Aktionstag deshalb gewählt wurde, weil es sich um den «Ärzte-Freitag» handelte und so die Einschränkungen für die Patienten auf ein Minimum beschränkt werden konnten.
Die Berufs-, Fach- und Dachverbände wurden von der Bewegung auf dem linken Fuss erwischt. Eben noch hatten sie gemeinsam gegen bundesrätliche Reformvorhaben gekämpft, und nun gab es von der Basis – und namentlich von den jungen Mitgliedern – Rufe nach viel weitgehenderen Schritten. Beunruhigend war auch, dass sich diese Forderungen in grossem Masse deckten mit jenen, die die Medizinische Akademie ein paar Jahre zuvor – damals ohne wesentliche Resonanz – veröffentlicht hatte; dadurch erhielten sie einen seriösen Anstrich und konnten nicht einfach als Hirngespinste abgetan werden. Auch die Politiker wussten nicht recht, was sie von «Thursdays for Future» halten sollten, zumal sich deren Vertreterinnen nicht von den Parteien vereinnahmen lassen wollten.
Es dauerte nicht lange, bis es ähnliche Manifestationen auch im übrigen Europa gab. Die junge Ärztin wurde zu internationalen Medizin-Kongressen eingeladen, sie nahm am Weltwirtschaftsforum in Davos und an der WHO-Generalversammlung in Genf teil, die NZZ ernannte sie zur «Person des Jahres», und Bundesrat Berset traf sich mit ihr zu einem Vier-Augen-Gespräch.
Und was niemand für möglich gehalten hatte, geschah: Plötzlich machten nicht nur einige, sondern alle Fachgesellschaften Listen mit unnötigen medizinischen Massnahmen, auf die zu verzichten sei. Plötzlich war das Parlament willens, nicht nur ein griffiges Präventionsgesetz, sondern auch ein Gesundheitsgesetz zu verabschieden. Plötzlich waren Hausärzte und Pa­tienten bereit, Daten zur Verfügung zu stellen, damit das Gesundheitssystem endlich seinen Blindflug beenden konnte. Plötzlich sprachen auch Leute, die bisher alle Annehmlichkeiten des Gesundheitssystems gedankenlos beansprucht hatten, von «Arthroskopie-» oder «Eiseninfusions-Scham».
Irgendwann im Laufe dieses Prozesses einigten sich die Akteure des Gesundheitssystems sogar darauf, zukünftig gemeinsame, nachhaltige Ziele zu verfolgen. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.
contact[at]amstad-kor.ch