Schminke für Schneewittchen

Horizonte
Ausgabe
2020/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18695
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2324):774

Affiliations
Dr. med.

Publiziert am 03.06.2020

Jährlich wird in Kanada und in den USA im Februar der Black History Month gefeiert. Er soll an den Beitrag der Afroamerikaner an die Geschichte des Landes erinnern. Ein bedeutsamer Anlass, zu dem der Online-Buchhändler Barnes & Noble einen originellen Beitrag leisten wollte. Man wolle das kritische Bewusstsein schärfen, hiess es da, zumal die klassische Literaturwahrnehmung einseitig weiss geprägt sei. Zwölf Jugendbücher wurden ausgewählt und mit jeweils fünf ­verschiedenen Buchumschlägen publiziert. Heldinnen und Helden stehen als ethnisch separate Cover-Versionen zur Auswahl. Die Inhalte bleiben unverändert, aber Moby Dick, Alice im Wunderland, Frankenstein oder Romeo und Julia wechseln Hautfarbe und Kostüm. Ein wütender Shitstorm zwang den Verlag zum schleunigsten Rückzug. Die Rede war von literarischem blackfacing und antirassistischer Kosmetik. Die angemessene Repräsentation ethnischer Minderheiten ist in den USA ein heisses Eisen. Zeitgleich zum Buchcover-Debakel wurde eine Bestsellerautorin, ­notabene mit puertoricanischen Wurzeln, angefeindet, weil sie das Schicksal einer mexikanischen Mutter und ihres Sohnes schilderte. Für Hardliner dürfen nur ­originale Mexikaner ihre Geschichte schreiben. Eine ­geplante Lesereise wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt.
Der Kampf um die Deutungshoheit wird aggressiv ausgetragen. Für Schweizer Verhältnisse mit einer vergleichsweise homogeneren Bevölkerung schwierig vorstellbar. Ein schwarzes Heidi mit Rastahaaren, mit einer asiatischen Pagenfrisur oder als indianische ­Variante mit schwarzen Zöpfen, Papa Moll mit Turban, ein schlitzäugiger Eugen oder ein langhaariger Globi als Transgender würde als geschmacklose Provokation abgetan, aber kaum einen Identitätskonflikt auslösen. Zugewanderte und grössere Minderheiten in den USA verlangen ein Mitspracherecht bei der Gestaltung ­ihrer Lebenswirklichkeit. Soll man deswegen ­historische Textpassagen umschreiben und damit Geschichtskorrekturen vornehmen? Muss die Fondation Beyeler ein leichtbekleidetes Mädchen von Balthus abhängen, weil es die Moralvorstellungen einiger Besucher stört? Muss man Roman Polanskis Filme boykottieren, weil er vor 50 Jahren mit einer 13-jährigen Sex hatte, auch wenn die Frau ihm längst verziehen hat und keinen Prozess wünscht? Warum verlangen Universitätsstudenten ein Frühwarnsystem, das sie vor verletzenden Textpassagen der Weltliteratur schützt? Der häufig ­zitierte Begriff der Mikroaggression bezieht sich auf zweideutige Ausdrücke der Animosität und Zurückweisung. Subtil verletzende Wortwahl an Stelle offener Ablehnung. Der Terminus deutet heute jedes psychische Unbehagen in eine politische Sprache um. Solche Entwicklungen ­haben die an sich sinnvolle ­politische Korrektheit in Verruf gebracht. Befürworter ­verweisen auf Studien kognitiver Wissenschaften, die aufzeigen, wie Sprach-Stereotype unbewusst unser Verhalten beeinflussen. Die Entfernung dieser toxischen Sprache diene dem Kampf gegen Rassismus, Miso­gynie und Chancenungleichheit. Die Gegner beklagen Frömmelei, Hexenjagd, Denunziation, Inquisition und Zensur. Happige Vorwürfe, die leider oft begründet sind. In Deutschland bietet die Homepage sensitivity reading.de eine Überprüfung eingereichter Manuskripte auf anstössige und missverständliche Stellen als Ergänzung zum Lektorat.
Schmerzhafte Gegensätze kann man nicht einfach übermalen. Das Experiment war gut gemeint, aber zu naiv. Auch Geschichtsklitterung macht kein Unrecht ungeschehen. Der Roman Onkel Toms Hütte hat 1852 seinen Zweck erfüllt. Heute darf man das Buch als ­Dokument auf die Seite legen. Das Zusammenspiel ­verschiedener Ethnien birgt ein riesiges Potential an konstruktiven Möglichkeiten. Die Gesellschaften, die alle diese Talente als erste zusammenbringen, werden die grössten Chancen haben, das 21. Jahrhundert zu überleben.
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