Teilzeit und Karriere im Spital – (k)ein Widerspruch!?

FMH
Ausgabe
2020/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18732
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(11):360-361

Affiliations
Kommunikationsspezialistin FMH

Publiziert am 10.03.2020

Teilzeitarbeit ist heute in vielen Berufsgruppen weitverbreitet. Waren es bisher meist Frauen, die Arbeit und Familie verbinden wollten, äussern heute auch immer mehr Männer den Wunsch, in einem reduzierten Pensum arbeiten zu wollen. Gerade in der Medizin sind die Möglichkeiten für Teilzeitarbeit jedoch begrenzt – für Frauen wie Männer. Und wer dennoch ein Teilzeitpensum als Spitalärztin oder Spitalarzt ergattert, muss fast immer mit einem Karriereknick und Lohneinbussen rechnen. Doch die löblichen Ausnahmen gibt es.
Er heisst Holger Böhle, stammt aus Deutschland, hat dort seine Fachausbildung in Anästhesiologie gemacht und dann fünf Jahre in Frankreich gearbeitet. Seit zwei Jahren ist er als Kaderarzt in der Abteilung Anästhesie und Reanimation im Spital Sitten angestellt. Holger Böhle ist einer unter immer mehr Ärzten, die Beruf und Familie unter einen Hut bringen wollen oder müssen. Er hat sich dabei für einen nicht ganz konventionellen Weg entschieden.
«Nachdem meine Frau bereits eine Stelle in Sitten angenommen hatte, habe auch ich mich dort beworben. Es war für mich von Anfang an klar, dass ich mich als Vater von drei Kindern und mit einer Vollzeit arbeitenden Frau nur für ein reduziertes Pensum verpflichten konnte und wollte», erzählt mir Holger Böhle, als ich ihn in seinem Zuhause in Clèbes, oberhalb von Sitten, besuche. Es war an einem der Tage, an dem er für Haushalt und Kinder verantwortlich war. Inmitten des ­Mittagessens, das er seiner gut einjährigen Tochter einlöffelte, erzählte er weiter: «Ich habe meine Bewerbung losgeschickt, dabei die Prozentangaben einfach weggelassen. Ich wusste, dass ich sehr vorsichtig vorgehen musste. Ich habe einfach gesehen, dass eine 80–100-Prozent-Stelle ausgeschrieben war, und versuchte mein Glück.»

Offen für den Kulturwandel

Dass Holger Böhle nur 60 Prozent arbeiten wollte, hat er erst im Bewerbungsgespräch verraten. Erstaunlicherweise waren die Reaktionen seiner Chefin und die der Spitalleitung gar nicht so abweisend. Es galt zwar die Devise, dass es auch als Kaderarzt keine Anstellung unter 70 Prozent gebe, doch als eine Oberarztstelle frei wurde und er diese mit einem 60-Prozent-Pensum besetzen konnte, hat er eingewilligt. Inzwischen kann Holger Böhle auch als Kaderarzt Teilzeit arbeiten und so seine Familienorganisation aufrechterhalten.
Wenn Holger Böhle heute als Kaderarzt zurückschaut, ist er sich sehr wohl bewusst, dass er nur dank der positiven und innovativen Einstellung seiner Chefin zu diesem Arbeitsplatz gekommen ist.

Viele Vorteile, aber auch mehr Aufwand

Corinne Gurtner ist seit 2015 Chefärztin der Abteilung Anästhesie und Reanimation im Spitalzentrum des französischsprachigen Wallis in Sitten. Über die Hälfte ihrer Belegschaft arbeitet heute in einem Teilzeitpensum. Dass das möglich ist und auch funktioniert, hat diverse Gründe, wie sie in ihrem kleinen, leicht düsteren und einfach eingerichteten Büro im Spital Sitten erklärt: «Der erste und fast wichtigste Punkt ist, dass man sich gut organisiert. Der zweite Punkt ist, dass die Ärzte, welche in Teilzeitpensen angestellt sind, interessiert bleiben und dass sie sich bei der Arbeit konstruktiv einbringen.» Unter 60 Prozent würde aber auch Corinne Gurtner niemanden einstellen.
Wenn sich Ärztinnen und Ärzte dazu entscheiden, in einem reduzierten Pensum zu arbeiten, bedeutet das für sie neben Lohneinbussen meist auch einen Rückschlag auf ihrem Karriereweg. Dessen bewusst ist sich auch Corinne Gurtner.
«Leitende Ärzte, die zu uns kommen, sind bereits auf einem Ausbildungslevel, auf dem es nicht mehr gross weiter nach oben gehen kann. Zudem fehlt es oft bei der Spitalleitung an der Bereitschaft, die Ärzteschaft in ihrer Karriereplanung zu unterstützen.»

Universitäre Forschung versus ­klinische Arbeit

Die leitende Anästhesistin erklärt, dass durch die Gefahr des Karriereknicks bei Teilzeitarbeit einige Kaderärztinnen und -ärzte bei ihr im Spital zwar Teilzeit ­arbeiten, parallel aber an einer universitären Klinik weiterforschen. Nur so würden sie trotz kleinerem Pensum in der klinischen Arbeit in ihrer Karriere nicht zurückfallen oder diese gar beenden müssen.

Männer und Frauen gleichauf

Spricht man von Teilzeitarbeit, sind Genderfragen nicht weit. Auf meine Frage an Corinne Gurtner, ob sie Teilzeitarbeit bei Kaderleuten befürwortet, weil sie selbst eine Frau ist, antwortete sie, ohne zu zögern: «Nein, für mich steht die Qualifikation einer Person im Vordergrund. Da spielt die Frage Mann oder Frau überhaupt keine Rolle. Die Person muss einfach in ihrem Fach gut sein. Die Gründe, Teilzeitarbeit zu akzep­tieren, sind vielfältig. Kaderärztinnen oder -ärzte arbei­ten enorm viele Stunden, in Sitten durchschnittlich 60 Wochenstunden bei einem Vollzeitpensum. Da muss man schon fast 80 Prozent ar­beiten, will man auch noch ein bisschen am Familienleben teilnehmen können.»
Corinne Gurtner ist sich bewusst, dass man sich bei ­einer solch hohen Arbeitsbelastung bereits ausserhalb dessen bewegt, was das Arbeitsgesetz zulässt. Umso mehr betont sie die Vorteile von Teilzeitarbeit.
«Meine Teilzeit-Kadermitarbeiterinnen und -Kadermitarbeiter kommen fokussierter zur Arbeit. Die Familienangelegenheiten bleiben zu Hause, und die Arbeit im Spital wird viel motivierter und kreativer ausgeführt.» Nur bei der Planung von Ferien und Notfalldiensten seien Teilzeitmitarbeitende nicht so flexibel, da sie sich zumeist nach Schulferien oder Hütediensten richten müssten, bringt Corinne Gurtner ein.
Auf die Frage, wie ihre männlichen Kollegen in leitenden Positionen auf ihre positive Einstellung zu Teilzeitarbeit reagieren, lacht Corinne Gurtner. Es seien vor allem Männer gewesen, die sie auf Teilzeitbeschäftigung angesprochen hätten, und nicht Frauen, obwohl heute die Zahl der Teilzeitbeschäftigten bei Frauen und Männern ausgeglichen sei.

Neue Wege lohnen sich für alle

Das Spitalzentrum Wallis in Sitten geht, indem es Teilzeitarbeit auch für Kaderärztinnen und -ärzte fördert, sicher einen zukunftsweisenden Weg. Dennoch lassen sich die Grundvoraussetzungen in Sitten nicht ganz mit denjenigen eines universitären Spitals vergleichen. Generell ist in Universitätskliniken das Engagement für die akademische Arbeit bei Ärztinnen und Ärzten in leitenden Funktionen sehr gross. Das bedeutet, dass ihnen auch bei einem Vollzeitpensum nur noch wenig Zeit für die klinische Arbeit bleibt. «Will man dann das Pensum noch reduzieren, so schrumpft die Arbeitszeit mit den Patientinnen und Patienten auf praktisch null, und das ist schlicht und einfach nicht möglich», sagt Corinne Gurtner. Und genau bei diesem Punkt gelte es nun für die Zukunft anzusetzen: die Zusammen­arbeit zwischen Universitätskliniken mit ihrer Forschung und die klinische Arbeit in der Peripherie zu verbinden. Dies ist auch höchst willkommene Zukunftsmusik für Holger Böhle.
Denn er kann sich heute kaum mehr vorstellen, wieder ein Vollzeitpensum anzunehmen: «Auch wenn meine Kinder in einem Alter sein werden, wo sie die Eltern nicht mehr ganz so intensiv brauchen wie heute, kann ich mir nicht mehr vorstellen, Vollzeit zu arbeiten. Meiner Meinung nach kann man auch in Teilzeit 100 Prozent in die Arbeit investieren. Wahrscheinlich werden es später 80 Prozent sein, aber meine Lebensqualität möchte ich nicht mehr hergeben.»
mirjam.benaiah[at]fmh.ch