„Fliegende Gutachter“ – eine Verteidigungsschrift?

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18742
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(12):418-419

Publiziert am 17.03.2020

«Fliegende Gutachter» – eine ­Verteidigungsschrift?

Ich hoffe ja nicht, dass sie wirklich «ein­fliegen», aber das war nur ein Punkt, der mich beim Lesen nachdenklich gestimmt hat. Ein anderer ist, dass wir Schweizer offensichtlich nicht in der Lage sind, der grossen Nachfrage nach Gutachten mit eigenen Ressourcen zu begegnen. Eigentlich sollte ja die Nationalität der Gutachter in einem europäischen Binnenland wie der Schweiz, in dem unsere Nachbarn auch in ganz andern Disziplinen und ­Berufen gut vertreten sind, nicht die entscheidende Rolle spielen. In den fünf Jahren, in ­denen ich – nach der altersbedingten Pensionierung – bei der Suva als Versicherungs­mediziner tätig sein durfte, gab es Momente, in denen ich der einzige Schweizer am Pausentisch war. Ich habe dort als Vertreter der schneidenden Zunft (das war es schliesslich, was ich kannte und bis dahin tat) auch dank ihrem Wissen und ihrer Kenntnis der schweizerischen Versicherungsmedizin sehr viel gelernt und profitiert. Nun ist es aber beim fliegenden Gutachter so, dass er/sie «besondere Kenntnisse der schweizerischen Versicherungsmedizin nicht vorzuweisen hat». Das tönt so etwas nach «learning by doing», und dabei erinnere mich an die eigenen, durchlaufenen SIM-Kurse mit Abschlussprüfung. Aber ein Gutachten sollte fundiert, umfassend, schlüssig und gnadenlos sachlich sein, denn sonst gibt es ein weiteres Gutachten (zum gleichen Fall). Ob das bei fliegenden Gutachtern bei den oben und im Artikel erwähnten Prämissen immer zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Und so tönt dieser Artikel für mich wie eine Verteidigungsschrift der gegenwär­tigen Praxis im versicherungsmedizinischen Wesen in der Schweiz, ganz im Tenor «faute de mieux». Wollen wir das? Wo sind eigentlich die Schweizer?
PS. Anschliessend sah ich mir J’accuse, den neuen Film von Roman Polanski zur Affäre Alfre­d Dreyfus an. Es geht dort um das Recht des Angeklagten und um die Gerechtigkeit. Etwas, was wir mit der Versicherungsmedizin (auch) für die Patienten/Versicherten erreichen möchten. Die realen Fakten im Prozess Dreyfus erlaubten kein richtiges Happy End. Ob dies in der schweizerischen Gutachterszene so erreicht werden kann?