Die Zukunft wird uns überzeugen

FMH
Ausgabe
2020/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18747
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(11):359

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 10.03.2020

Als im Jahr 1872 der Ordinarius für Physiologie und spätere Rektor der Universität Zürich Professor Ludimar Hermann eine Schrift zum «Frauenstudium» ­publizierte, fürchtete er «das grenzenlose Unglück […], das die Universität vernichten würde, dass nämlich […] die Zahl der Studentinnen eines Tages grösser würde als die der Studenten» [1]. Diese damals ernsthafte Sorge mehrerer wissenschaftlicher Autoritäten löst heute bestenfalls ein Lächeln oder Kopfschütteln aus. Seit 15 Jahren absolvieren in der Schweiz jedes Jahr mehr Frauen als Männer ein Studium der Humanmedizin – und sowohl die Universität Zürich als auch unser Berufsstand entwickeln sich weiter.
Dennoch sollte man Äusserungen wie die oben zitierte nicht einfach als bizarre historische Fundstücke abtun. Denn: Aus den Irrtümern vergangener Zeiten lässt sich einiges für unsere heutigen Herausforderungen lernen. Den Untergang der Universität Zürich befürchtete Prof. Hermann vor allem, weil die studierenden Frauen weniger Möglichkeiten hatten, die notwendige Vorbildung mitzubringen. Eine reguläre Einführung des Frauenstudiums hätte für ihn die Einrichtung von Gymnasien für Mädchen und von Universitäten für Frauen vorausgesetzt. Dies schien ihm in keinem sinnvollen Kosten-Nutzen-Verhältnis zu stehen, zumal er das Bedürfnis in der Schweiz als «verschwindend klein» erachtete: Damals waren an der Uni Zürich gerade einmal zwei Schweizerinnen eingeschrieben.
Hier blieb also auch der gewissenhafte Wissenschaftler Prof. Hermann ein Kind seiner Zeit: Zwar stellte er völlig korrekt fest, dass das Studium der Frauen mit weitreichenden anderen Veränderungen verbunden wäre – hielt diese jedoch für zu gross und nicht realistisch. So lagen z.B. Gymnasien für Mädchen oder gar für beide Geschlechter ausserhalb seiner Vorstellungswelt. Die damals bestehenden Gegebenheiten und Strukturen schienen ihm weitgehend gesetzt – und studierende Frauen deshalb abwegig. Auch die gesellschaftlichen Rollenbilder schienen ihm unverrückbar. So hielt er u.a. die wegen der «fast vollkommenen Unvereinbarkeit von ehelichem Familienleben und ärztlichem Beruf der Frau» erwarteten Schwierigkeiten «für nahezu unüberwindlich» [1].
Während Schulen und Universitäten heute beiden ­Geschlechtern gleichermassen offenstehen, haben sich Vorbehalte gegenüber Ärztinnen als (potentielle) Mütter hartnäckig gehalten: «Gerade Frauen in den Dreissigern – also im Zeitraum der Familienplanung – haben es besonders schwer, ihre Karriereziele zu verfolgen und umzusetzen» [2]. Wo junge Fachärztinnen «unge­nügend gefördert oder nicht befördert» [2] werden, weil man Kindererziehung und Familienleben mit einer ärztlichen Karriere für unvereinbar hält, herrschen die gleichen Denkfehler wie vor 150 Jahren: Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche ärztliche Tätigkeit werden als gesetzt betrachtet – und engagierte Eltern in Kaderpositionen deshalb als abwegig.
Dass es auch anders geht, zeigt der Bericht auf S. 360 von einem Kaderarzt, der in der Abteilung einer innovativen Chefärztin wegen seiner drei Kinder Teilzeit arbeitet, während seine Frau – ebenfalls Ärztin – in Vollzeit beschäftigt ist. Prof. Hermann hätte dieses Beispiel erstaunt, aber wegen seiner wissenschaftlichen Grundüberzeugung wohl interessiert zur Kenntnis genommen. Sein Vorbehalt «Wir können uns in dem Allen irren, nur die Erfahrung ist kompetent» kann uns in ­diesem von ständigem gesellschaftlichem Wandel geprägten Thema eine gute Leitlinie sein: In den letzten 150 Jahren haben sich Ärztinnen in der früheren Männerdomäne Medizin durchgesetzt und auch den Letzten überzeugt – und die Entwicklung geht weiter. Neue Lebens- und Arbeitsmodelle werden mit weitreichenderen Veränderungen einhergehen, als sich viele von uns heute vorstellen können – die Zukunft wird uns überzeugen.