Stören die Deutschen Fliegenden Gutachter? Ja, sie stören!

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/12
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18762
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(12):418

Publiziert am 17.03.2020

Stören die Deutschen Fliegenden Gutachter? Ja, sie stören!

Anwalt Weiss fragt, ob wir Deutsche Fliegende Gutachter (DFG) benötigen. NEIN! Voraus­gesetzt, die Sozialversicherer vertrauen uns Schweizer Haus- und Spezialärzten nach 6 Jahren Studium, mindestens gleich langer Assistentenzzeit und jährlich verlangter Fort­bildung. Wir benötigen weder DFG noch Schweizer Gutachterhochburgen. Weiss argumentiert, die DFG seien wirtschaftlich von der IV unabhängig. Aber: «Wess Brot ich ess, dess Lied ich sing», alte Minnensängerweisheit (siehe den Artikel im Bund vom 4.3.2020). Zudem: Welcher gute Arzt kann seine Praxis ­verlassen und für einen Tag im Ausland ihm fremde Menschen begutachten!
Gesundheit und Krankheit des Menschen sind mit seiner Geschichte verwoben. Dazu zwei Beispiele: Tom verbrannte sich als 9-Jähriger mit einer zu heissen Suppe die Speiseröhre, so dass sie vernarbte. Eine epigastrische Fistel war nötig. Bei Wolf und Wolff wurde ihm als erwachsenem Labordiener Prostigmin in den Magen gebracht. Er reagierte mit Krämpfen und Durchfall, später ebenso nach einer Placebolösung und (!) nach einer Atropininstillation. Tom hatte aufgrund seiner ersten Erfahrung dem Atropin die Bedeutung Prostigmin aufgeprägt, er hatte aus seiner ­Geschichte gelernt und die zweiteilige Ur­sache-Wirkungs-Kette in eine dreiteilige verändert: Ursache-Interpretant-Wirkung. Hier erkennen wir die Bedeutung der Lebensgeschichte: Sie gestaltet die Wirklichkeit INDIVIDUELL. Zweites Beispiel: Papst Johannes Paul verkündet eines Morgens seinem Kämmerer, er wolle heute die Sauna besuchen. Dieser: «Heute ist sie gemischt!» Der Papst: «Diese paar Protestanten stören mich nicht.» Papst und Kämmerer haben die gleiche Tat­sache aufgrund ihrer Lebenserfahrung individuell und unterschiedlich interpretiert.
Bei den IV-Patienten handelt es sich um ­Menschen, bei denen ihre Geschichte eine Hauptrolle spielt, mit oder ohne organische Ver­änderungen. Auch bei «rein Organischen» ist die Geschichte entscheidend. Der eine kann mit der gleichen organischen Störung noch arbeiten, der andere nicht, aufgrund ihrer Geschichte. Diese zu erfassen benötigt die Kenntnis der Geschichte dieser Menschen. Das braucht Zeit und Erfahrung mit ihnen. Diese besitzt der Hausarzt und in einigen Fällen sein Spezialist-Kollege.
Die Lösung: Diese verfassen die nötigen Berichte, Gutachten gestützt auf das moderne, biopsychosoziale Konzept der Medizin, und nicht wie die reinen Gutachter, die sich bedauerlicherweise wie die IV und die Juristen noch auf das aus dem 17. Jahrhundert stammende Biologische Konzept stützen, das unmenschlich ist, der Natur des Menschen nicht entspricht.