Die Coronakrise aus hausärztlicher Sicht

Tribüne
Ausgabe
2020/1516
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18810
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(1516):546-548

Affiliations
a Dr. med., Facharzt für Chirurgie und Allgemeine Innere Medizin;
b Dipl. Arzt, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Schwerpunkt Geriatrie, Hausarztpraxis Birsfelden

Publiziert am 07.04.2020

Aus gegebenem Anlass möchten wir, stellvertretend für viele Kollegen und Kolleginnen, die täglich Hausarztmedizin betreiben, unsere – hausärztliche – Sicht auf die Coronakrise darlegen. Um unseren Gesamteindruck vorwegzunehmen: Es wurde ohne uns geplant.

Die Fehleinschätzung

Als im Januar erste Meldungen kamen, schenkten viele in der Ärzteschaft dem Ausbruch der Corona-Epidemie in China wenig Beachtung. Bei einigen reaktivierte sich eine Erinnerungsspur von SARS und MERS, deren Versanden im eigenen Bewusstsein das entscheidende Residuum war. Beide Epidemien gelangten nicht bis in die heile Schweiz. Nun, das Skript war vorgespurt: China, das ist weit weg, und das Problem war noch genau­so weit weg, als über erste Todesfälle berichtet wurde. Erstmals wurden wir hellhörig, als die Zahlen aus China eine rasche Verbreitung anzeigten.
Im öffentlichen Diskurs schlich sich währenddessen der Gedanke ein, die Sterblichkeit werde überschätzt und es handle sich um eine etwas heftigere Influenza. Es wurde über die wahre Inzidenz diskutiert [1], und man tröstete sich mit dem Gedanken, dass die meisten dann doch überleben würden. Gerade auch in deutschen Medien wurde lange ein abwiegelnder Tonfall gepflegt. So schrieb der SPIEGEL noch am 28.1.2020 in eine­r Überschrift: «Die Grippe tötet hier Tausende, das Corona­virus bislang niemanden»[2]. Spätestens als Anfang Februar das eindrückliche Video aus einem Spital in Wuhan kursierte, mussten die Alarmglocken schrillen. Was uns erst langsam zu dämmern begann: Egal, ob die Mortalität jetzt 2 oder 0,7% beträgt, wenn Zehntausende erkranken, gibt es trotzdem in kurzer Zeit sehr viele Tote: zu viele für jedes Gesundheitssystem. Aber aus Bern klang es Mitte Februar ganz anders: Wir haben die Situation im Griff, wir sind bestens vorbereitet, wir haben das neue Pandemiegesetz. Wir Hausärzte sassen beim Pausenkaffee und diskutierten die Bedeutung der Coronawelle, die sich aufzubauen begann. Noch Mitte Februar waren wir uns nicht bewusst, welches Ausmass diese bei uns annehmen würde.

Hamsterkäufe und deren Auswirkung auf die Versorgung der Arztpraxen

Wir verliessen uns auf das BAG – und dummerweise auf unsere Hauslieferanten für Schutzmaterialien (Masken, Desinfektionsmittel). Als das Hamstern losging, war es zu spät. Die meisten Hausarztpraxen funktionieren wie jeder moderne Betrieb: gestützt auf punktgenaue «on time»-Lieferungen der meisten Materialien – eine Vorratshaltung existiert schon aus ökonomischen Gründen nicht. Aus unseren Gesprächen mit Kollegen und Kolleginnen schliessen wir, dass die meisten pro Arzt vielleicht eine bis vier Flaschen Desinfektionsmittel und einige wenige Masken in der Praxis auf Lager haben. Spezifische Schutzkleidung hat niemand. In dieser Angelegenheit beim kantonsärzt­lichen Dienst hilfesuchend, wurde uns und anderen dann indirekt vorgeworfen, dass wir die Empfehlungen des BAG aus dem Jahr 2018 nicht gelesen hätten [3]. In der Tat: Dieses Dokument ist uns beiden jungen Hausärzten in den ersten beiden Betriebsjahren nicht unter die Augen gekommen. Leider ist es auch den Konstrukteuren des Zertifizierungsprozesses, den wir mit unserer Praxis durchlaufen haben, entgangen, dass es Wichtigeres gäbe, als dass die Ansage des Telefonbeantworters unbedingt auf Hochsprache daherkommt. Und es bleibt die Frage, weshalb solche Informationen nicht im Rahmen der Ausstellung einer Praxisbewilligung in einer Art «Startermappe» übergeben werden.
Der Umstand, dass die Bestände von uns ambulant tätigen Ärzten und Ärztinnen marginal sind, zeigt, wie gross die Differenz zwischen einem Plan und dessen Umsetzung sein kann. Der Plan sieht folgende Zahlen vor: 336 Hygienemasken und 2500 Untersuchungshandschuhe pro Person mit Kontakt zu Patientinnen und Patienten. Das macht für eine Praxis mit zwei Ärzten und vier Mitarbeiterinnen die sagenhafte Zahl von 2016 Masken (sinnvollerweise FFP-2-Masken) und 15 000 Handschuhen. Wenn wir so weiter rechnen, schätzen wir den Verbrauch an Desinfektionslösung auf ein bis zwei Liter pro Woche, macht auf 12 Wochen bis zu 24 Litern Desinfektionslösung. Dieses ist notabene in den Empfehlungen des BAG nicht einmal aufgeführt, da der Bund davon ausgeht, dass die inländische Produktion schnell angepasst und die Mittel prioritär an medizinische Institutionen abgegeben werden können [3]. Glücklicherweise beliefert uns im allgegenwärtigen Lieferengpass mittlerweile der Weinhändler unseres Vertrauens.
Im Verbund mit den offiziellen Empfehlungen zur Lagerhaltung bedeutet dies, dass wir ein zwei bis drei Kubikmeter messendes Warenlager im Wert eines tieferen vierstelligen Betrages für unsere Praxis anlegen und regelmässig erneuern müssten. Selbst wenn wir die Empfehlungen gekannt hätten, hätten wir niemals ein solches Warenlager angelegen können. Diese Planung war, ist und wird immer nur eines sein: Makulatur. Das hätte man, wenn man Hausärztinnen und Hausärzte und auch alle anderen praktizierenden Kolleginnen und Kollegen gefragt hätte, wissen können. Die einfachste Lösung wäre gewesen: Lagerhaltung mit einem spezifisch für die ambulant tätige Ärzteschaft definierten Anteil, organisiert vom Staat, bezahlt aus der vollen Staatskasse und vor allem eines: kontrolliert.

Kommunikation: von überlasteten Hotlines und anderem

Als der Ernst der Lage klar wurde, schwoll der Kampa­gnenwahn an, die Liveticker wurden immer schneller, und das Zahlenkarussell begann sich zu drehen. Das BAG gab eine erste Falldefinition heraus, wer zu testen sei. Die Hürden schienen uns prohibitiv hoch: Sym­ptome gepaart mit einer geographischen Herkunfts­definition. Wenn man den Kreis der Verdächtigen stark einengt, findet man nichts, so kam es uns damals vor.
Als dann im Tessin der erste Patient positiv getestet wurde, versuchten wir von der zuständigen Kantonsärztin eine neue Falldefinition zu erhalten. Denn was in Chiasso ist, ist in zwei Tagen in Basel: Fehlanzeige. Es folgten seitenweise Vorschriften, wie jemand, der positiv getestet worden wäre, und jene, die Kontakt gehabt hätten, zu isolieren seien und so weiter. Es wurde und wird abgeraten, mit Symptomen einer Infektion des Respirationstraktes zum Hausarzt zu gehen. Es wurde uns signalisiert: Hände weg vom Test, die Indikation sei mit der Kantonsärztin respektive dem Kantonsarzt zu besprechen. Natürlich erwies es sich so als schwierig, eine symptomatische Patientin zum Abstrich zuzuweisen. Denn bereits am 26.2.2020 war die zuständige Notfallstation nicht mehr telefonisch zu errei­chen, und es war kaum mehr möglich, zeitnahe Feedbacks vom Kantonsarztamt zu erhalten. Telefonische Eigen-(!)Recherchen bei den ersten Abgestrichenen ergaben dann, dass es etwa zwei Tage dauern kann, bis der Bescheid kommt. Dass wir als Zuweiser den Befund nicht bekommen, ist eine Frechheit. Denn die Betrof­fenen stellen ihre Fragen danach nämlich uns.
Mit der Überlastung der BAG-Hotline haben nun auch die Telefonberatungen zugenommen, deren Hauptlast unsere Mitarbeiterinnen seither tragen. Die Falldefini­tionen verwickelten uns zunehmend in zeitraubende Rabu­listik, ob ein Patient nun für einen Abstrich quali­fiziert oder nicht. Wir waren schon früh überzeugt, dass die Falldefinitionen nicht helfen können, das wahre Ausmass der Problematik frühzeitig zu erkennen. Sowohl von Seiten des BAG als auch der Kantonsärzte kristallisierte sich heraus, dass man die Hausarztmedizin eigentlich ganz umschiffen wollte und die ganze Krisenabwicklung über Zentren der grossen Spitäler geplant hatte. Wahrscheinlich, um uns zu schützen.
Zwar haben wir einerseits zentral definierte Meldekriterien, andererseits beobachteten wir unterschiedliche Abläufe für das Vorgehen bis zum Abstrich. Unsere Praxis ist sehr nahe der Kantonsgrenze gelegen, so dass wir Patienten aus beiden Kantonen betreuen. Wir mussten uns selbst darum kümmern, in den E-Mail-Verteiler der städtischen Kollegen aufgenommen zu werden, um zu erfahren, wo und wie die städtischen Patienten abgeklärt werden sollten.

Der Nicht-Auftrag

Sprechen wir doch vom Nicht-Auftrag: Die Hausarztmedizin ist ganz nah bei den Leuten, die Wege sind kurz, zu uns kommen viele immer noch zuerst. Wir sind jetzt schon die Ersatzhotline für die verschiedenen, zentral organisierten Hotlines. Wir hätten ein paar tausend Abstriche ohne hastig hochgezogene Provisorien innert drei Tagen dezentral hinbekommen, und das wohl ohne dass ein höheres Risiko bestanden hätte, dass sich das Virus über die Arztpraxen übermäs­sig verbreitet. Es ist ohnehin nicht nachvollziehbar, warum zu Beginn ein symptomatischer Verdachtsfalls für einen Abstrich ins Zentrum verbracht werden soll, denn der Verdachtsfall ergibt sich zu oft erst durch die persönliche, ärztliche Anamnese.
Kein anderer Zweig des Gesundheitssystems ist in der Lage, tausende von Proben innert Tagen zu nehmen, weder die grossen Spitäler noch ein Seuchenbüssli (denn das war bereits 2 Tage nach seiner Etablierung am 11.3.2020 im Kanton Baselland überlastet). Man hätte es einfach vorher planen müssen: pro Region/Stadt/Dorf eine Praxis, die baulich geeignet ist, mit Material ausstatten, und los geht’s.
Seit Erstverfassung dieses Artikels haben wir realisiert, dass bezüglich der Planung mit den Hausärzten grosse kantonale Unterschiede bestehen müssen. Die komplizierten, kantonalen und zentralistischen sowie zum Teil widersprüchlichen Ansagen haben zu Beginn nicht geholfen, rasch Klarheit zu schaffen. Aber eben: Man hat ohne uns geplant.

Problematische Ratschläge

Bleiben Sie bei Husten und Fieber zu Hause! Gehen Sie nicht zum Arzt! Dieser Rat konnte schon Anfang März ins Auge gehen. Inzwischen dürfen wir nach der neusten Verordnung des Bundesrates nur noch Notfälle in der Praxis sehen [4]. Dies reduziert den Praxisbetrieb mehrheitlich auf Telefonkonsultationen. Jedoch können die am Telefon milde geschilderten Symptome der Patientinnen und Patienten in Wahrheit relevanter sein, hier fehlt das klinische Bild für eine adäquate Beurteilung. Diejenigen, die durch die Verordnung primär geschützt werden sollten, die Risikopatientinnen und -patienten, sind nun gleichzeitig von einer Unterversorgung bedroht, wenn der momentane Zustand länger andauert. Das Konzept, die Hausarztmedizin von den Trägern der Seuche zu verschonen, ist zudem realitätsfern. Denn auch die wenigen anderweitigen Notfälle in der Praxis husten dem Arzt dann doch spontan ins Gesicht.
Und jetzt? Je länger der sogenannte Shutdown anhält, desto mehr Patientinnen und Patienten mit Bagatellen drängen am Telefon auf eine Konsultation in der Praxis. Psychisch vulnerable Personen zeigen bereits eine Zunahme von Angst- und Depressionssymptomen. Die Betreuung der chronisch Kranken wird aufgeschoben. Elektive Eingriffe sind abgesagt, das heisst im Einzelfall, dass Patientinnen und Patienten auf ­unbestimmte Zeit weiter leiden müssen. Ambulante Therapien (z.B. Physiotherapien) sind auch für schwer betroffene Pa­tientinnen und Patienten kaum noch zu organi­sieren.
Bezüglich der aktuellen Diskussion über die Hand­habung der Corona-Abstriche beobachten wir in der Praxis, dass ein positives Abstrichresultat eine spürbare Verbesserung der Compliance bezüglich der Quarantänevorschriften bewirkt. Demgegenüber zeigen ungetestete, vor allem junge Personen hierfür weniger Verständnis.
Auf anderer Ebene ist anzumerken, dass auch für uns Hausärzte und Hausärztinnen die Umsatzeinbussen in der aktuellen Situation substantiell sind und, würden sie andauern, die Grundversorgung langfristig gefährden können.

Die aktuelle Situation ist uns eine Lehre

Erstens: Materialien gehen ohne eine gesicherte Zulieferkette schnell zur Neige, und von offizieller Seite darf man offenbar keine brauchbare/zeitnahe Unterstützung erwarten. Sollte sich dies in Zukunft nicht glaubhaft ändern, werden wir eigene Vorräte in praktikablem Mass anschaffen müssen, auch wenn wir diese selbst bezahlen und bei Nichtgebrauch wieder entsorgen müssen.
Zweitens braucht es eine bundesweite Planung, die die Hausarztpraxen explizit einbezieht und nicht ausschliesst.
Drittens braucht es gesicherte und vorher definierte Kommunikationswege zwischen allen beiteiligten Stellen.
Viertens, und dies ist eine persönliche Meinung, wäre es wahrscheinlich klüger, diese Aufgaben würden, wie übrigens auch die Spitalplanung, in Gesundheitsregionen geregelt.
So oder so, es bleibt zu hoffen, dass Covid-19 die Schweiz weniger hart trifft, als es zu befürchten ist. Bei allem Negativen bleibt die Chance, nach der Krise grundlegende Abläufe unseres Systems zu hinterfragen und kritisch zu bewerten, vielleicht zur Abwechslung unter spürbarem Einbezug derer, die davon betroffen sind.
Wir wünschen allen Kolleginnen und Kollegen viel Kraft für die kommende Zeit.
Hausarztpraxis Birsfelden
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