Maserung

Horizonte
Ausgabe
2020/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18843
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2526):827

Publiziert am 17.06.2020

Mein Schreinerfreund hat über Nacht
mir einen neuen Tisch gebracht,
an dem ich schreibend, lesend sitze,
um etwas, was als Lebensskizze
ich von den Eltern einst erhalten,
zu einem Eig’nen zu gestalten.
Die Fläche ruht auf festen Pfosten,
lässt mich den Duft von Eiche kosten,
durch Arbeit ward aus einem Baum
ein Arbeitsplatz in meinem Raum.
Das frühe Morgenlicht erschafft
am Tisch mir eine Zauberkraft,
Gewebe eines neuen Traumes,
wenn Blätter meines grossen Baumes
die Schatten auf die Platte legen
und sich im Winde sanft bewegen.
Von Stämmen, Ästen, Nadeln, Zweigen,
die draussen sich zum Fenster neigen,
formt dieses Licht die Schattenspuren
auf meinem Tisch zu Signaturen
und lässt im zarten Morgenwehen
mir eine neue Schrift entstehen,
in der das Aussen, das hier scheint,
sich mit dem inner’n Sein vereint.
Denn bald vermischt sich die Kontur
der schattenspendenden Natur
mit Fasern, die der Schreiner sacht
durch Arbeit erst ans Licht gebracht.
Die Flammenzungen deuten an,
wo es auch einmal brennen kann.
Was Jahre in das Holz gezeichnet,
wird gern als Maserung bezeichnet,
wobei der Wortstamm dunkel bleibt,
wie auch sein Schatten, der hier schreibt –
umfassend schwebend Zwischenräume,
in die ich Lichtgestalten träume,
die doch ihr Wesen durch die Schatten
erst lebensecht gefunden hatten.
Es lohnt sich oft, dass zwischen Zeilen
wir einen Augenblick verweilen,
weil dort die wahre Botschaft steht,
um die sich Schrift als Floskel dreht.
Die Sonne lässt die Tageszeiten
durch meine neue Zeichnung gleiten,
erschafft in ihren Schattenspuren
nur immer neue Sonnenuhren;
es wird, was seitlich abgelenkt,
als mir gemässe Zeit geschenkt.
So kann ich denn mich selber erden
und auch ein Teil des Ganzen werden.
Wenn abends dann die grosse Welt
den Tisch in ihren Schatten stellt,
verhindert auch das Dunkel nicht
Erinnerung ans Tageslicht,
verkündet schon, trotz aller Sorgen,
die Zuversicht für einen Morgen,
der ganz gewiss dann neu beginnt
und neu ein Schattenspiel ersinnt –
sodass ich mich schon manchmal frage,
wenn einst an unbestimmtem Tage
der Schreiner diesen Tisch zersägte
und zwischen diese Bretter legte,
was dann von meinem Erdenleibe
für eine Zeit noch übrig bleibe,
ob dann mein heit’res Lebenslicht
genügt für weit’re Zuversicht?
Jürg Kesselring
Prof Dr. Jürg Kesselring
FRCP
Senior Botschafter
und ­Neuroexperte
Rehabilitationszentrum
Kliniken Valens
Taminaplatz 1
CH-7317 Valens
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