Zum Tabakproduktegesetz und dem zweitletzten Rang der Schweiz in der Tabakkontrollskala

Suchtprävention besteht aus kohärentem Jugendschutz

Tribüne
Ausgabe
2020/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18846
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2324):768-770

Affiliations
Dr. med., FMH Innere Medizin und Pneumologie, vormals Vizepräsident der Lungenliga Schweiz und der Lungenliga Waadt, Vizepräsident von OxySchweiz

Publiziert am 03.06.2020

Dass es Philip Morris beinahe gelang, als Hauptsponsor des Schweizer Pavillons der Weltausstellung in Dubai aufzutreten, zeigt den Einfluss der Tabakindustrie auf die Bundesverwaltung. Darauf weist auch eindrücklich der zweitletzte Platz unseres Landes in der europäischen Tobacco Control Scale (TCS) hin, die im Februar an der Konferenz über Tabak und Gesundheit veröffentlicht wurde.
Die Rahmenkonvention der Weltgesundheitsorganisation zur Kontrolle der Tabakepidemie (FCTC = Framework Convention on Tobacco Control) steht schon seit 2004 auf der Agenda des schweizerischen Parlamentes, das sie aber bisher nicht ratifizieren wollte. Seit 2014 das neue Lebensmittelgesetz gilt, besteht für Tabak- und ähnliche Produkte eine Gesetzeslücke, da das Parlament das Tabakproduktegesetz (TabPG) zurückgewiesen und damit auf die lange Bank geschoben hat. Die Händler von Snus und E-Zigaretten erwirkten so am Parlament vorbei über das Bundesverwaltungs­gericht die Legalisierung von Nikotin. Die folgenden Zeilen erläutern den Rang der Schweiz auf der TCS [1] und was für den Jugendschutz verpasst wurde.

Tabakkontrollskala 2019

Die Krebsligen der Länder Europas veröffentlichen alle paar Jahre anhand der prioritär erachteten FCTC-Massnahmen der Tabakprävention eine Rangliste. Bewertet werden die Preise und Rauchverbote, Präventionsbudgets, Werbeverbote und Warnhinweise sowie die Beitritte zur FCTC (Nicht-Beitritt = Minuspunkt), zur Konvention über den Schmuggel, und das Einhalten des Artikels 5.3 der FCTC, der dazu verpflichtet, die Massnahmen vor der Unterwanderung durch die Industrie zu schützen. Die TCS 2019 ist in Tabelle 1 wiedergegeben. Die Schweiz ist von Platz 21 (2016) auf den 35. und damit zweitletzten Rang zurückgefallen, da sie nur gerade 41 von 100 Punkten erreicht. Als Gründe nennt der Bericht den Einfluss der multinationalen Tabakkonzerne, die Werbeverbote verhindern [2], und dass das Parlament dem Bundesrat auf sein Ersuchen die Befugnis entzog, die Tabaksteuern zu erhöhen [3]. Lako­nisches Fazit: Die Schweiz sei mehr an gesunder Tabakindustrie als an gesunden Bürgern interessiert.
Tabelle 1: Rangliste der europäischen Länder nach TCS-Gesamtpunktzahl 2019 (vereinfacht: erste und letzte fünf Ränge) [1].
Ranking 2019 (2016)CountryPrice 
(30)Public place bans (22)Budget 
(10)Ad bans 
(13)H.warning (10)Treatment (10)Illicit Trade
(3)Art.5.3
(2)Total (100)
1 (1)UK2522012992180
2 (4)France2522012992180
3 (2)Ireland2522012992180
4 (3)Iceland2522012992180
5 (5)Norway2522012992180
          
32 (30)Slovakia1212x9562046
33 (23)Serbia191109141045
34 (33)Luxembourg51609572044
35 (21)Switzerland131142570041
36 (33)Germany 141104542040

Die Rahmenkonvention zur Kontrolle der Tabakepidemie

Der Interessenkonflikt zwischen Tabakindustrie und öffentlicher Gesundheit, den die meisten (d.h. die 184 die FCTC ratifizierenden) Länder der Welt auch rechtlich festhalten, wird hier ignoriert. Denn mit der FCTC halten die Vertragsstaaten fest, dass Tabak- und Nikotinprodukte mit der Absicht hergestellt werden, Abhängigkeit zur erzeugen und zu erhalten. Ohne Produkteverbot soll die Nachfrage durch Steuern und durch ein Verbot der Werbung gedrosselt werden. Das Angebot soll beschränkt werden, indem der Verkauf der Produkte an Minderjährige sowie der Schmuggel verboten werden. Letzteres soll mit Hilfe der Produkteverfolgbarkeit bis zum Einzelverkauf (tracking and tracing) sichergestellt werden. Keine der FCTC-Massnahmen hat die Schweiz umgesetzt. Im Gegensatz dazu beweisen die Länder der ersten TCS-Ränge wie Grossbritannien, dass die Massnahmen wirken; die Raucherquoten betragen dort weniger als die Hälfte der unseren.

Auflösung der Kommission 
für ­Tabakprävention

Die Eidgenössische Kommission für Tabakprävention (EKTP) wurde im November 2019 aufgelöst [4]. Ihr Auftrag wurde Anfang 2020 der Kommission für Fragen zu Sucht und nichtübertragbaren Krankheiten (EKSN) übergeben. Der Entscheid unterwandert Tabak- und Suchtprävention, denn die Strategiepapiere des Bundes, die der EKSN als Richtlinien dienen könnten, sind untauglich. Obwohl Tabak den überwiegenden Teil der nichtübertragbaren Krankheiten (non-communicable diseases = NCD) verursacht, erwähnt die NCD-Strategie 2017–2020 die FCTC mit keinem Wort, nennt weder Verhältnisprävention noch Senkung der Raucherquoten von Jugendlichen als Zielvorgabe und lässt offen, war­­um strukturelle Prävention vom Parlament seit Jahren abgelehnt wird [5]. Dabei wäre ein Verbot der Werbung das naheliegendste Mittel, um die Zahl von chronic obstruc­tive pulmonary disease- und Herz-Kreislauf-­Patienten in der Bevölkerung zu senken.
Die «Strategie Sucht 2017–24» [6] besteht aus Allgemeinplätzen ohne konkrete Massnahmen. Ihre Autoren konzentrierten sich auf das individuelle Suchtverhalten und seinen Zusammenhang mit illegalem Drogen- und Medikamentenmissbrauch. Sie vernachlässigten die kreative Habgier der Drogenhändler im liberalen Markt. Die Geschichte der Tabakepidemie beweist hingegen, dass das Verhalten der Hersteller das Public-Health-Problem Tabak proaktiv verursacht und unterhält. Paradigmatisch erläutert: Das Rauchen des tabakgestopften Friedens-Calumets, wie es im Europa des 17. Jahrhunderts zur Mode wurde, wäre ohne die Tabakindustrie nie ein Problem für die öffentliche Gesundheit geworden. Erstens erkannte die Industrie die Droge Nikotin als Ursache der Kundenbindung, optimierte daher deren Aufnahme ins Gehirn und maskierte mittels Zusatzstoffen die natürliche Irritation der Atemorgane durch Nikotin und Rauch , so dass Rauchen sogar für Kinder erträglich wurde. Zweitens stilisierte sie durch Werbung die Tabak- und Nikotinsucht in der Öffentlichkeit für neue Segmente der Konsumgesellschaft zur Mode (Emanzipation, Freiheit, Auflehnung, Coolness, Lifestyle), um Junge anzufixen, die leichter und dauerhafter abhängig werden. Und drittens gelang es ihr durch instrumentalisierte Experten, Wissenschaftsbetrug, Meineide, Bearbeitung von Politikern und Behörden sowie Desinformation von Kunden und Öffentlichkeit, die Toxizität und das Abhängigkeits­potenzial ihrer Produkte zu verschleiern.

Einflussnetzwerke

Die Versäumnisse in der Tabak- und Suchtprävention sowie die parlamentarischen Verzögerungen sind kaum zufällig, sondern sind der Industrie und ihren Helfern zuzuordnen. Dies schliesst die EKTP, die auf deren Taktiken hinweist [7]: die E-Zigaretten-Kontroverse schüren, legale Entscheide verhindern/verzögern, Experten und Behörden einschüchtern, sich als verantwortlich für Schadensminderung und als innovativ positionieren. Es liegt nahe, damit auch die Auflösung der EKTP zu erklären. Der Verdacht erhärtet sich bei Betrachtung des vom Ständerat vorgelegten dritten Entwurfes des Tabakproduktegesetzes (TabPG), der zwar das Verkaufsverbot an Minderjährige enthält, welches sich aber, ohne umfassende Werbe-, Promotions- und Sponsoringverbote für Tabak und Nikotinprodukte, als Alibigesetz erweist [8]. Denn der Entwurf impliziert die für Jugendliche attraktive Botschaft: «Niko­tin ist für Kinder zwar verboten, es ist aber cooler lifestyle-Genuss für Erwachsene!» Das Verkaufsverbot wird unterwandert, denn Tabak- und Nikotinprodukte verschwinden ja nicht aus der banalen Realität des in der Konsumgesellschaft Beworbenen.

Enormer PR-Aufwand

Die von der TCS ins Licht gerückten Mängel widerspiegeln die langjährige PR-Strategie der Tabakkonzerne. Mit E-Zigaretten und anderen potentially reduced-risk products (PRRPs) will die Industrie nun Volksvertreter von ihrer Kehrtwende überzeugen [9] und sich als Partner der öffentlichen Gesundheit aufspielen, indem sie «Schadensminderung» propagiert. Die PRRPs aus innovativer Forschung sollen ausschliesslich für Raucher/innen zur Tabakentwöhnung oder als Tabak­ersatz bestimmt sein, keinesfalls für Nichtraucher. Der angebliche Gewinn für die öffentliche Gesundheit soll rechtfertigen, sie im TabPG von Steuern und Werbeverboten zu befreien. Die CEOs der Multinationalen treten persönlich dazu an, wobei sich Werbung, bezahlte Beiträge und redaktionelle Artikel kaum unterscheiden [10, 11]. Philip Morris appellierte an Politiker an einem PR-Anlass am World Economic Forum (WEF) [12] und hat im Nationalrat durch den Vorstoss des Präsidenten der Gesundheitskommission ein Echo gefunden [13]. Tatsächlich dient «Schadensminderung durch Innovation» aber dazu, die Verbreitung der Nikotinsucht zu vernebeln. Denn Raucher bedürfen keiner Werbung, um sich «neuen Produkten» zuzuwenden; Rauchstopp-Beratung oder Information im Laden genügt. Die Behauptung der Industrie jedoch, sie wolle keine Tabakprodukte mehr verkaufen, sondern nur noch die PRRPs an Raucherinnen und Raucher vermarkten, kann unmöglich ehrlich gemeint sein: Ohne Rekrutierung von jungen Nichtrauchern durch Werbung in die Nikotinabhängigkeit würde ihr Markt in einer Generation austrocknen.

Kinder und Jugendliche schützen

Die TCS bildet die Tabakprävention der Schweiz realistisch ab. Die Alibiübungen im Bereich TabPG, NCD und Suchtprävention verheimlichen kaum mehr, dass die Gesundheit der Bevölkerung nie vor den Interessen der Tabakindustrie gestanden hat. Die Lehre aus der Tabak-Epidemie, in der FCTC festgehalten, gilt für «legale» wie «illegale» Drogen, d.h. alle Stoffe, die Abhängigkeit erzeugen: Der Jugendschutz bedingt ein umfassendes Werbe-, Promotions- und Sponsoringverbot für ihren Handel. Denn Drogendealer und Werbefachleute wissen nur zu gut, wie Drogen in jugendlichen Gehirnen verankert werden. Bezüglich des TabPG seien unsere Volksvertreter daher daran erinnert, dass jede Suchtprävention als zentrales Element die Jugend vor der Banalisierung der abhängig machenden Substanzen zu schützen hat. Die Bundesverfassung (Art. 11) gebietet den Schutz der Jugendlichen; dasselbe fordert die Volksinitiative «Ja zum Schutz der Jugend und Kinder vor Tabakwerbung».

Das Wichtigste in Kürze

• Die Schweiz belegt in der Rangliste zu Tabakpräventionsmassnahmen, die von den Krebsligen der europäischen Länder erstellt werden, 2020 den zweitletzten von 36 Rängen.
• Die Gründe: der Einfluss der multinationalen Tabakkonzerne, die Werbeverbote verhindern, und zu billige Tabakprodukte wegen unwirksamer Besteuerung. Fazit: Die Schweiz sei mehr an gesunder Tabakindustrie als an gesunden Bürgern interessiert.
• Einen Rückschlag bedeutet die Auflösung der eidgenössischen Kommission für Tabakprävention. Denn die Ziele einer wirksamen Tabak- und Suchtpolitik werden von den Strategien des Bundes (NCD Strategie, und Strategie Sucht) vernachlässigt, da sie den Jugendschutz und seinen Zusammenhang mit Werbeverboten ignorieren.
• Im Gegensatz zur Schweiz beweisen Länder wie Grossbritannien im ersten Rang der TCS, dass die Massnahmen der FCTC, wie Werbeverbote, wirksam sind: die Raucherquoten betragen dort weniger als die Hälfte der unseren.

L’essentiel en bref

• La Suisse se range juste à l’avant-dernière place de 36 sur l’échelle du contrôle du tabagisme, établie par les ligues du cancer de l’Europe.
• Les raisons: l’influence des multinationales du tabac qui bloquent les interdictions de la publicité. Et des prix trop attractifs, à cause d’une imposition inefficace.
• La dissolution de la commission fédérale pour la prévention du tabagisme constitue un échec pour la prévention. Car dans les stratégies fédérales des maladies non transmissibles et des addictions, les objectifs d’une politique co­hérente concernant tabac et addictions sont négligés, puisqu’elles ignorent la protection de la jeunesse et sa relation avec l’interdiction de la publicité.
• Contrairement à la Suisse, les pays comme le Royaume-Uni, au premier rang de la TCS, prouvent que les mesures de la FCTC sont efficaces. La proportion de fumeurs y est in­férieure à la moitié de la nôtre.
Dr. med. Rainer M. Kaelin
Plantay 53
CH-1163 Etoy VD
palmier.kaelin[at]bluewin.ch
 1 Jossens L, Feliu A, Fernandez E. The Tobacco Control Scale 2019 in Europe. Brussels: Association of European Cancer Leagues, Catalan Institute of Oncology 2020 (tobaccocontrolscale.org/TCS2019.pdf).
 2 Kaelin RM. Der Staat im Staat. SchweizÄrzteztg. 2019;100(43):1438–40.
 3 Nationalrat, Wintersession 2016. Sitzung vom 14.12.2016. Tabaksteuergesetz. 16.051 (admin.ch/Parlament/Nationalrat).
 4 Honegger L. «Das Risiko einer Epidemie besteht.» Der Bundesrat löst die Kommission für Tabakprävention auf. Luzerner Zeitung, 15.11.2019.
 5 Kaelin RM. Zwischen Volksgesundheit und wirtschaftlichem Interesse. Schweiz Ärzteztg. 2017;98(21–22):700–2.
 7 EKTP: Praktiken der Tabakindustrie zur Einflussnahme auf die Schweizer Gesundheitspolitik. Eine Übersicht (bag.admin.ch).
 8 Kaelin RM. Tabakproduktegesetz als zahnlose Alibiübung. Infosperber, 7.11.2019.
 9 Kaelin RM. Lügen: «Juul», Cannabis und die Stiftung für eine rauchfreie Welt … Schweiz Ärzteztg. 2019;100(10):350–2.
10 NZZ Media Solutions / Philip Morris SA: Inside Innovation. März 2020.
11 Schweizer Presserat, Stellungnahme vom 5.4.2019 für blick.ch. «Ist IQOS weniger schädlich als eine Zigarette?» (2.7.2018).
12 Kaelin RM. CEO von Philip Morris tadelt Schweizer Politik. Infosperber, 20.2.2020.
13 Interpellation 20.3115. De Courten T. Werbeverbote zwecks Jugendschutz: Gesetzgebung muss mit Technik und Innovation Schritt halten (12.3.2020).