Weiterentwicklung der Tarifstruktur für die stationäre Psychiatrie

TARPSY 3.0 mit stärkerem Leistungsbezug

FMH
Ausgabe
2020/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18854
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(1920):

Affiliations
a Dr. phil., Experte, Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH; b Leiterin Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 06.05.2020

Das grosse Engagement der Fachgesellschaften zusammen mit der FMH bei der ­Abbildung von aufwendiger Diagnostik und Behandlungen in der CHOP zeigt Wirkung. Bei TARPSY 3.0 sind erstmals die neuen psychiatriespezifischen CHOP-Codes in die Kalkulation eingeflossen. Dadurch kann die leistungsgerechte Vergütung ­gefördert werden. Wichtig ist es, dass alle Kliniken die CHOP-Codes erfassen.
Seit 2018 rechnen Leistungserbringer in der statio­nären Erwachsenenpsychiatrie mit TARPSY ab. 2019 wurde der Gültigkeitsbereich verbindlich auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie und 2020 auf die forensische Psychiatrie ausgedehnt. Die Genehmigung durch den Bundesrat vorausgesetzt, tritt die neue TARPSY-Version 3.0 per 1. Januar 2021 in Kraft. Die Tarifstruktur TARPSY basiert auf degressiven leistungsbezogenen Tagespauschalen. In den Tarifversionen 1.0 und 2.0 wurden die Patientenaufenthalte bzw. Fälle anhand der Diagnose, Nebendiagnose, Symptom­intensität (HoNOS/HoNOSCA1) sowie des Alters in die verschiedenen psychiatrischen Kostengruppen (PCG) eingeteilt. Um den Leistungsbezug weiter zu stärken, hatte die SwissDRG AG entschieden, zusätzlich psychiatriespezifische CHOP-Codes in die Tarifstruktur zu integrieren.

Einsatz der Fachgesellschaften 
trägt erste Früchte

Die Fachgesellschaften haben sich mit Unterstützung der FMH aktiv bei der Erarbeitung von psychiatrie­spezifischen CHOP-Codes engagiert. Dabei achteten sie darauf, nur notwendige CHOP-Codes zu beantragen, damit sich der administrative Aufwand so weit als möglich in Grenzen hält. Im Datenjahr 2018 konnten diese CHOP-Codes (siehe Tab. 1) erstmals von den Kliniken erfasst werden. Einige Codes haben sich bei der Kalkulation von TARPSY 3.0 bereits als relevant für die Differenzierung der PCG sowie für die Definition neuer Zusatzentgelte erwiesen. Konkret spielt ein qualifizierter Entzug im Verbund mit einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Krisenintervention eine Rolle bei der weiteren Unterteilung («Split») der Basis-PCG «TP21 – Psychische oder Verhaltensstörungen durch ­Alkohol, andere Drogen oder andere Substanzen». Die Krisen­intervention ist zudem im Verbund mit einem Alter >75 Jahren beim Split der Basis-PCG «TP24 – Störungen bei Demenz oder andere organische Störungen des Zentralnervensystems» gruppierungsrelevant. In den übrigen Basis-PCG spielen spezifische Leistungen nach wie vor keine Rolle als Split-Kriterium.
Tabelle 1: Auswahl von für TARPSY wichtigen CHOP-Codes (CHOP 2020, Abschnitt 94, «Auf die Psyche bezogene Massnahmen»).
94.13Psychiatrische Abklärung zur eventuellen fürsorgerischen Unterbringung (FU)
94.14Aufwändige Diagnostik bei psychiatrischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen bei ­Erwachsenen
94.15Alterspsychiatrisches Assessment
94.16Multiaxiale Diagnostik bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (MAS)
94.28*Elektrokrampftherapie (EKT)
94.2ARepetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) bei psychiatrischen Störungen, nach Anzahl Tage
94.30Psychotherapie (Einzel- oder Gruppentherapie), nach Anzahl Tage
94.35.1**Psychiatrisch-psychotherapeutische Krisenintervention in der Erwachsenenpsychiatrie und -psychosomatik
94.35.2**Psychiatrisch-psychotherapeutische Krisenintervention in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
94.3A.1Psychotherapeutische und psychosomatische Komplexbehandlung, nach Anzahl Behandlungstage
94.3A.2Integrierte klinisch-psychosomatische Komplexbehandlung, nach Anzahl Behandlungstage
94.3BKomplexbehandlung des polymorbiden alterspsychiatrischen Akutpatienten, nach Anzahl Behandlungstage
94.3CKomplexbehandlung bei Demenz mit psychiatrischen und psychoorganischen Komplikationen, nach Anzahl ­Behandlungstage
94.3D*1:1-Betreuung bei psychischen und psychosomatischen Störungen in der Erwachsenenpsychiatrie
94.3E*1:1-Betreuung bei psychischen und psychosomatischen Störungen und Verhaltensstörungen in der ­­Kinder- und Jugendpsychiatrie
94.3F*Belastungserprobung in der Psychiatrie (Kinder, Jugendliche und Erwachsene), nach Dauer
94.3GKomplexbehandlung bei Anorexie in der Psychiatrie
94.4AMutter-Kind-Behandlung in der Erwachsenenpsychiatrie
94.4BKind-Eltern-Setting bei psychischen und psychosomatischen Störungen von Kindern und Jugendlichen
94.6A.1**Qualifizierter Entzug Abhängigkeitskranker, nach Anzahl Behandlungstage
94.6A.2Entwöhnungsbehandlung bei Substanzmittelabhängigkeit, nach Anzahl Behandlungstage
94.8XPsychosoziale Interventionen
*: Code bildet in TARPSY 3.0 Basis für ein Zusatzentgelt.
**: Code spielt in TARPSY 3.0 eine Rolle bei PCG-Split.
Darüber hinaus konnten in TARPSY 3.0 neue Zusatzentgelte auf der Basis der folgenden CHOP-Codes etabliert werden: Behandlung mit einer Elektrokrampftherapie, 1:1-Betreuung in der Erwachsenenpsychiatrie, 1:1-Betreuung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Belastungserprobung in der Erwachsenenpsychiatrie sowie Belastungserprobung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der TARPSY-Zusatzentgeltkatalog umfasst aus­serdem drei Antipsychotika (Risperidon, Aripiprazol und Paliperidon). Wichtig ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die für die Akutsomatik definier­ten Zusatzentgelte ebenfalls weiterhin für die Psych­iatrie Gültigkeit haben.

Belastungserprobung ab 2021 wieder ­vergütet

Das Zusatzentgelt für die Belastungserprobung ist jedoch eher knapp bemessen und wird bei Abwesenheiten von 24 bis weniger als 48 Stunden mit 153 CHF und bei Abwesenheiten von mehr als 48 Stunden mit 204 CHF vergütet. Die SwissDRG AG begründet dies damit, dass bei ihrer Kalkulation lediglich die zusätzlichen (personellen) Kosten für die Organisation und Durchführung der Belastungserprobung berücksichtigt sind. Sie strebte also wie im Falle von Urlaubsabwesenheiten keine volle Ausfinanzierung des freigehaltenen Bettes an. Bei Erwachsenen werden maximal drei Belastungserprobungen pro stationären Aufenthalt vergütet. Das Zusatzentgelt Belastungserprobung ist jedoch erst ab 1. Januar 2021 wirksam. Die FMH hatte sich deshalb stark für eine Verlängerung der bis Ende 2019 gültigen Übergangsregelung eingesetzt, was von den anderen Partnern der SwissDRG AG bedauerlicherweise nicht unterstützt wurde.

Datenqualität verbessern – 
CHOP-Codes erfassen

Die SwissDRG AG identifizierte insbesondere zwei Schwierigkeiten bei der Weiterentwicklung der Tarifstruktur. Zum einen wurden von nahezu der Hälfte der Kliniken die neuen CHOP-Codes nicht verwendet, obschon sie gemäss der SwissDRG AG entsprechende Leistungen erbracht hatten. Zum anderen erwiesen sich Angaben von lediglich durchschnittlichen Tageskosten ohne Leistungsbezug als hinderlich. 13 der 60 erfassten Kliniken mussten von der Analyse ausgeschlossen werden, da ihre Daten nicht valide waren. Bei den verbleibenden 47 Kliniken waren schliesslich 78% der ­gelieferten Fälle plausibel. Bei der Altersgruppe unter 18 Jahren fiel dieser Anteil jedoch mit 60% deutlich tiefer aus. Solche Datenausfälle können zu Verzerrungen in der Tarifstruktur führen. Es ist für die Weiterentwicklung der Tarifstruktur deshalb zentral, dass alle Kliniken ihre Leistungs- und Kostendaten korrekt erfassen und insbesondere auch die zur Verfügung ­stehenden psychiatriespezifischen CHOP-Codes verwenden (siehe Tab. 1). Zur Unterstützung stehen für die FMH-Mitglieder Dokumentationsmuster2 zur Verfügung. Die FMH begrüsst die von der SwissDRG AG ­ergriffenen Massnahmen zur Förderung der Datenqualität, wie z.B. Klinikbesuche, unterjährige Datenlieferung mit Plausibilisierung sowie beschleunigtes Feedback während der Datenlieferung.

Funktionseinschränkungen sind ­plötzlich gruppierungsrelevant

Bei TARPSY 3.0 spielen neu die Diagnosecodes U50.– (motorische Funktionseinschränkung) und U51.– (ko­gnitive Funktionseinschränkung) bei mehreren PCG-Splits eine Rolle. Dies ist beispielsweise bei der PCG TP21A «Psychische oder Verhaltensstörungen durch Alkohol, andere Drogen oder andere Substanzen, Alter <18 Jahre, oder komplizierende Diagnose oder bestimmte Behandlung» der Fall; oder auch bei der PCG TP30A «Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen, Intelligenz- oder Entwicklungsstörungen, Alter <18 Jahre, oder bestimmte Intelligenz- oder Verhaltensstörung». Das Ausmass der mit den U-Codes abgebildeten Funktionseinschränkungen wird konkret durch den (erweiterten) Barthel-Index, den funktionalen Selbständigkeitsindex (FIM) oder den Mini-Mental-Status-Test (MMSE) erfasst. Diese Messinstrumente ­haben sich insbesondere in der Rehabilitation bewährt und sind für die Psychiatrie eher unüblich. Zudem weisen die beiden U-Codes Ähnlichkeiten zu den HoNOS-Items Nr. 4 (kognitive Probleme) und Nr. 5 (Probleme in Zusammenhang mit körperlicher Erkrankung oder Behinderung) auf, die bereits für die Qualitätsmessungen des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ) erhoben werden müssen und ebenfalls als Split-Kriterium bei mehreren PCG relevant sind. Funktionseinschränkungen sind relativ aufwendig zu erfassen. Unnötiger administrativer Aufwand durch allfällige Doppelerfassungen von Ähnlichem gilt es zu vermeiden, gemäss dem Motto: so viel Datenerhebung wie nötig und so wenig wie möglich. Der Bundesrat wird im Genehmigungsschreiben für die neue Version explizit darauf hingewiesen, dass die FMH sich gegen den unnötigen administrativen Aufwand ausspricht.

Effekt von mehreren komplizierenden Nebendiagnosen klären

Es ist wichtig, dass jeweils auch bestehende somatische Nebendiagnosen für einen Fall erfasst werden. Denn wie schon bei der Vorgängerversion kann auch bei TARPSY 3.0 weiterhin eine komplizierende Neben­diagnose ausreichend sein, um ein höheres Kosten­gewicht zu erzielen. Vor dem Hintergrund klinischer Erfahrungen ist jedoch davon auszugehen, dass das Vorhandensein von mehreren komplizierenden Nebendiagnosen einen kumulativen Effekt hat. Aus Sicht der FMH ist es deshalb wichtig, dass die SwissDRG AG künftig zu­sätzlich den Effekt von multiplen komplizierenden ­Nebendiagnosen auf die Fallschwere und die Fallkosten überprüft.

Auch spezialisierte Abteilungen ­sach­gerecht abbilden

In spezialisierten Abteilungen für die Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie, die Alterspsychiatrie und die Forensik ist der Leistungsaufwand erfahrungsgemäss höher, als wenn entsprechende Patienten zum Beispiel wegen Kapazitätsengpässen in einer dafür nicht spe­zialisierten Station untergebracht werden. Für künftige Tarifversionen ist es zentral, dass bei der Daten­erhebung und Datenauswertung unterschieden wird, ob beispielsweise ein Kind oder Jugendlicher in einer spezialisierten Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt wird oder in der Erwachsenenpsych­iatrie. Genauso gilt es zu unterscheiden, ob ein Patient in ­einer Station für spezialisierte Alterspsychiatrie oder Forensik behandelt wird oder auf einer nicht dafür spezialisierten Station.

Verwendete Normierung soll Tarif­verhandlungen erleichtern

Anders als bei der Vorgängerversion wird für TARPSY 3.0 erstmals eine Art der Normierung angewendet, die einen Katalogeffekt auf der gesamtschweizerischen Ebene vermeidet. Hierzu wird sichergestellt, dass die Summe der effektiven Kostengewichte der Vorversion (TARPSY 2.0) und der aktuellen Version (TARPSY 3.0), jeweils angewendet auf das zugrundeliegende Datenjahr 2018, gleichbleibt. Ohne eine solche Normierung würde unter sonst gleichen Voraussetzungen mit TARPSY 3.0 im Vergleich zu TARPSY 2.0 gesamtschweizerisch ein Rückgang der durchschnittlichen Vergütung um rund 2,2% erfolgen, sofern dies nicht durch die ­Baserate ausgeglichen würde. Entsprechendes Konfliktpotenzial an den Tarifverhandlungen wäre vorprogrammiert ­gewesen. Mit der verwendeten Normierung konnte die Swiss­DRG AG zumindest diese Problematik beheben. Nun ist zu hoffen, dass sich die Tarifpartner trotz oder gerade wegen der durch die Corona-Pandemie erschwerten Lage im schweizerischen Gesundheitswesen bei ­ihren Verhandlungen rasch finden ­werden.
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