Covid-19-Verordnung 2 zu Wahleingriffen

Welche Eingriffe und Behandlungen sind noch erlaubt?

FMH
Ausgabe
2020/1718
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18865
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(1718):567-568

Affiliations
Lic. iur., Abteilung Rechtsdienst FMH

Publiziert am 22.04.2020

Bereits seit 21. März 2020 ist Art. 10a Abs. 2 der Covid-19-­Verordnung in Kraft, welcher es den Gesundheitseinrichtungen – namentlich Spitäler und Kliniken, Arztpraxen und Zahnarztpraxen – verbietet, nicht dringend angezeigte medizinische Untersuchungen, Behandlungen und Therapien (Eingriffe) durchzuführen. Diese Massnahme wirkt sich einschneidend und direkt auf die Tätigkeit vieler selbständig erwerbenden Ärztinnen und Ärzte aus; teilweise erscheinen über 90% weniger Patienten in den Praxen. Viele Kosten wie Miete der Praxisräumlichkeiten oder Leasing von medizinischen Geräten und Apparaturen laufen aber weiter. Deshalb wird in der Folge beleuchtet, welche Tätigkeiten einer Ärztin oder einem Arzt noch erlaubt sind.
Wichtig ist als Erstes festzuhalten, dass die Entscheidungskompetenz, ob ein Eingriff notwendig ist oder nicht, stets bei den behandelnden Gesundheitsfachpersonen liegt. Das ärztliche Ermessen ist entscheidend, Ärztinnen und Ärzte sollen diesen Ermessenspielraum nutzen und ihren Entscheid immer der Individualität des einzelnen Falles anpassen.
In Art. 10a Abs. 3 der Covid-19-Verordnung 2 (Stand 1.4.2020) wird die Umschreibung «nicht dringend» präzisiert. Als nicht dringend angezeigt gelten namentlich Eingriffe, die:
a. zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden können, ohne dass bei der betroffenen Person Nachteile zu erwarten sind, die über geringe physische und psychische Beschwerden und Beeinträchtigungen hinausgehen; oder
b. überwiegend oder vollständig ästhetischen Zwecken, der Steigerung der Leistungsfähigkeit oder dem Wohlbefinden dienen.
Diese Bestimmungen dienen zweierlei Zwecken, die als (kumulative) Leitlinien dienen können, welche Behandlungen weiterhin durchzuführen sind:
Zum einen soll vermieden werden, dass sich in solchen Einrichtungen nicht unnötige Menschenansammlungen bilden (z.B. in Wartezimmern) bzw. nur Personen aufhalten, die unmittelbar eine Behandlung benötigen. Zum anderen sollen durch aus medizinischer Sicht nicht notwendige Eingriffe keine Kapazitäten und Ressourcen gebunden werden, die potentiell zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Covid-­19-Infektion benötigt werden (Personalres­sourcen, Infrastrukturen, Heilmittel und Verbrauchsmaterial). Dies erfordert, dass alle Akteure des Gesundheitswesens heute Verantwortung übernehmen und Prioritäten für die kommenden Monate setzen. Insbesondere ist es dringend erforderlich, die Zahl der unnötigen Krankenhausaufenthalte in Einrichtungen der Intensiv- und Intermediärmedizin zu begrenzen. Es dürfen daher nur chirurgische Eingriffe und Behandlungen vorgenommen werden, die als lebenswichtig angesehen werden. Die getroffenen Entscheidungen müssen jedoch den Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung für möglichst viele Patienten ­sicherstellen.
Dies bedeutet im Umkehrschluss aber auch: Ärztinnen und Ärzte sind gehalten, alle gesundheitlichen Beschwerden zu behandeln, deren Nichtbehandlung zu einer allfälligen späteren Einweisung in ein Spital führen könnten. Als Beispiel kann eine Mittelohrentzündung dienen. Wird sie nicht behandelt, kann sich der Verlauf so verschlechtern, dass der Patient ein, zwei Tage später gezwungen sein wird, das Notfallzentrum eines Spitals aufzusuchen.
Zulässig sind gemäss den Erläuterungen zur Covid-19-­Verordnung unter anderem Eingriffe, die bei einer Unterlassung zu einer Verkürzung der Lebenserwartung, zu einer bleibenden Schädigung, zu einem erheblichen Risiko für eine erhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder zu einer notfallmässigen Hospitalisation führen, oder die Lebensqualität in ­ausserordentlich starker Weise verschlechtern. Als Beispiel für solche Eingriffe werden genannt:
– Tumorchirurgie aller Disziplinen mit ansonsten schädigendem oder tödlichem Verlauf,
– Gefässoperationen, die bei Unterlassung zum permanenten Verlust der Funktion einer Extremität führen,
– Irreponible oder inkarzerierte Hernien aller Art,
– Gelenksoperationen, welche bei Unterlassung zu eine­r bleibenden Funktionseinschränkung führen,
– Frakturen, die nicht konservativ behandelt werden können,
– Rückenoperationen mit Ausfallerscheinungen oder unbeherrschbaren Schmerzen,
– sämtliche Eingriffe rund um Schwangerschaft und Geburt,
– akute Schmerzzustände, die eine operative Therapie bedingen,
– Eingriff bei Infektionszuständen, die konservativ nicht beherrscht werden können (z.B. Abszesse),
– Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit von Medizinalpersonen,
– telemedizinische Dienstleistungen sowie
– Präventionsleistungen bei Kindern und Jugend­lichen (Impfungen).
Eine abschliessende Liste aller zulässigen medizinischen Eingriffe ist nicht möglich. In der ambulanten Medizin sind jedoch alle Konsultationen zulässig, die der Abklärung dienen, ob es sich überhaupt um lebenswichtige Probleme handelt, besonders in der Pädiatrie. Auch sind medizinisch indizierte Kontrollen von Behandlungen, die schon vor der Verordnung des Bundesrates begonnen wurden, selbstverständlich fach­gerecht weiterzuführen. Dabei ist selbstredend zu beachten, dass in der Praxisorganisation die Hygiene-Massnahmen des BAG umgesetzt werden; auch sollten die Patienten so aufgeboten werden, dass sich möglichst wenige Personen zur gleichen Zeit in den Warteräumlichkeiten befinden.
Nicht erlaubt ist es aber jedenfalls, in Kliniken / Praxen für ästhetische Chirurgie eine Sprechstunde zu führen oder Eingriffe wie Lippen unterspritzen etc. durchzuführen. Ebenso dürfen ärztlich geführte Praxen, welche z.B. Behandlungen zur Verbesserung des Wohl­befindens oder der Leistungsfähigkeit anbieten, keine solchen Dienstleistungen anbieten oder durchführen.
Abschliessend kann festgehalten werden, dass es schlussendlich in der Entscheidungskompetenz der Gesundheitsfachpersonen liegt, ob ein Eingriff notwendig ist oder nicht, da dies immer eine Einzelfallentscheidung bleibt. Um Diskussionen über ihre Entscheidung vorzubeugen ist es unabdingbar, dass in der Patientendokumentation nachvollziehbar dokumentiert wird, wieso der durchgeführte Eingriff oder die Behandlung nicht aufschiebbar war.
nils.graf[at]fmh.ch