Ergebnisse der INFRAS-Studie «Ansprüche an die ärztliche Versorgung» im Auftrag der AGZ

Gesundheitsreformen, die den Bedürfnissen entsprechen

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2020/2122
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18873
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2122):681-684

Affiliations
a Dipl.-Volkswirtin, Bereichsleiterin und Partnerin INFRAS; b Dipl.-Volkswirtin, Gesundheitsökonomin AerzteGesellschaft des Kantons Zürich (AGZ)

Publiziert am 20.05.2020

Zuhören, den Patientinnen und Patienten Sachverhalte verständlich erklären und sie in Entscheidungen aktiv mit einbeziehen: Eine breit angelegte Studie aus dem Jahr 2019 im Auftrag der AerzteGesellschaft des Kantons Zürich (AGZ) zeigt, dass Bevölkerung und Ärzteschaft in vielen Aspekten gleiche Vorstellungen von einer gutenärztlichen Versorgung haben.

Auftrag und Motivation der AGZ

Der Fokus auf das Kostensparen in der Schweizer Gesundheitspolitik beunruhigt die AGZ zunehmend. Die Eingriffe des Bundesrats in den TARMED limitieren Leistungen. Seine Kostendämpfungsmassnahmen zielen durch die Verpflichtung der Tarifpartner zur Steuerung der Kosten und durch Zielvorgaben für die Kostenentwicklung auf eine Rationierung von Leistungen ab. Was Ärztinnen und Ärzte für eine gute Versorgung von Patientinnen und Patienten benötigen und welche Bedürfnisse die Bevölkerung hat, wird dabei nicht berücksichtigt.
Die AGZ möchte zu einer Diskussion über bedarfsgerechte Gesundheitsreformen beitragen, die beim Nutzen für die Bevölkerung ansetzen und die Bedürfnisse der Leistungserbringer nicht ausser Acht lassen. Sie hat das Forschungs- und Beratungsunternehmen INFRAS mit einer Studie zur Erörterung folgender Fragen beauftragt:
• Welche Ansprüche hat die Bevölkerung und die Ärzteschaft an die Gesundheitsversorgung? Stimmen diese mit dem Versorgungsangebot überein?
• Wie muss die Arztpraxis, wie muss die Versorgungslandschaft der Zukunft aussehen, damit Patientenbedürfnisse erfüllt sind und sich Ärztinnen und Ärzte in dieser Arbeitswelt wiederfinden?
• Wie passt das zusammen mit den Trends und politischen Vorhaben im Gesundheitswesen?
Zur Untersuchung der Fragestellungen der AGZ ­haben die Studienautorinnen und -autoren von ­INFRAS im Zeitraum Ende 2018 bis Anfang 2019 eine repräsen­tative Bevölkerungsbefragung mit über 1000 Teilnehmenden in der Deutschschweiz sowie eine Umfrage unter der Ärzteschaft des Kantons Zürich durchgeführt. Zudem haben sie die Fragen mit verschiedenen Be­völkerungsgruppen – darunter Personen mit chronischen Erkrankungen sowie Ärztinnen und Ärzte – in mehreren Fokusgruppen vertieft diskutiert und deren Anliegen in kurzen Videostatements festgehalten.

Ansprüche der Bevölkerung

Das Vertrauensverhältnis ist zentral

Die Bevölkerung legt grossen Wert auf eine gute Hausarztversorgung. Neun von zehn Befragten wählen als erste Anlaufstelle ihren Hausarzt bzw. ihre Hausärztin wen sie sich krank fühlen. Dies ist auch bei der Mehrheit der Befragten der Fall, die nicht aufgrund ihres Versicherungsmodells dazu gezwungen sind. Am liebsten konsul­tieren die Befragten Ärztinnen und Ärzte, die ihre Lebenssituation und Krankheitsgeschichte kennen.

Hohe Ansprüche an die Verfügbarkeit der Ärztinnen und Ärzte

Die Schweiz zählt zu den Ländern mit sehr gutem Zugang zur Gesundheitsversorgung und geringen Wartezeiten. Dies sind für die Bevölkerung besonders relevante Qualitätsmerkmale. Den Befragten ist es sehr wichtig, im Krankheitsfall zügig versorgt werden zu können. Nur eine Minderheit würde weniger Praxen oder längere Wartezeiten für Termine in Kauf nehmen, wenn dafür die Prämien sinken würden.

Ernst genommen werden und mitentscheiden

Gut versorgt fühlen sich Patientinnen und Patienten, wenn die Ärztinnen und Ärzte ihre Anliegen ernst nehmen, sich genügend Zeit für die Beratung nehmen, verständlich kommunizieren und mit einer ganzheitlichen Sicht auf die Beschwerden eingehen. Eine Mehrheit von zwei Dritteln möchte lieber in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, statt diese allein dem Arzt oder der Ärztin zu überlassen.

Hohe Zufriedenheit mit der Qualität

Die Bevölkerung zeigt sich in der Befragung mit der Qualität der Versorgung sehr zufrieden. Mehr als 85 Prozent beurteilen die Qualität der Diagnosestellung, Beratung und Behandlung in Praxen und Spitälern als gut oder sehr gut (vgl. Abb. 1). Gleichwohl sehen die Befragten auch Verbesserungsbedarf, insbesondere bei der Koordination. Ein Drittel ist der Meinung, dass die Ärztinnen und Ärzte sich im Behandlungsprozess besser abstimmen müssten.
Abbildung 1: Beurteilung der Qualität der ärztlichen Versorgung durch die Bevölkerung.
Grafik: INFRAS. Quelle: Repräsentative Onlinebefragung der Bevölkerung in der Deutschschweiz 2019. N = 1005, fehlend = 0.

Ansprüche der Ärzteschaft

Ausreichend Zeit für Patientinnen sowie Patienten und fachlich gefordert sein

Sich ausreichend Zeit für die Patientinnen und Patienten nehmen, ihnen zuhören und Sachverhalte verständlich erklären können – diese Kriterien sind aus Sicht der befragten Ärztinnen und Ärzte wichtig für eine gute ärztliche Versorgung. Die Umfrageresultate zeigen, dass die Ärztinnen und Ärzte vertraute Ansprechpersonen für ihre Patientinnen und Patienten sein wollen. Ebenso wichtig ist es ihnen, fachlich gefordert zu sein und sich stetig weiterbilden zu können.

Flexiblilität, Teilzeitmöglichkeiten sowie Austausch mit Kolleginnen und Kollegen

Flexibilität am Arbeitsplatz und die Möglichkeit, sich mit den Fachkolleginnen und -kollegen auszutauschen sind für die befragten Ärztinnen und Ärzte wichtige Arbeitsbedingungen (vgl. Abb. 2). Für rund 80 Prozent ist Teilzeitarbeit ein bedeutsames Anliegen. Hier zeigt sich klar ein Generationeneffekt. Vor allem Ärztinnen und Ärzte im Alter von unter 45 Jahren legen gros­sen Wert darauf.
Abbildung 2: Die acht wichtigsten Anliegen der Ärzteschaft an ihre Arbeitswelt.
Grafik: INFRAS. Quelle: Onlinebefragung bei der Ärzteschaft des Kantons Zürich 2019. N = 945, fehlend = 0 bis 9 (je nach Antwortkategorie).

Praxistätigkeit bevorzugt

Tendenziell sehen die befragten Ärztinnen und Ärzte ihre Anliegen an die beruflichen Rahmenbedingungen eher im Rahmen einer Praxistätigkeit erfüllt. Hier erachten sie insbesondere die Möglichkeiten für eine gute Arzt-Patient-Beziehung und eine flexible Arbeits­zeitgestaltung als besser. Beim Austausch mit Kolleginnen und Kollegen schneiden hingegen Spitäler und Kliniken besser ab. Dies ist mit ein Grund dafür, weshalb die Befragten Gruppen- und Gemeinschaftspraxen gegenüber Einzelpraxen tendenziell bevorzugen.

Hohe Arbeitsbelastung und Kostendruck

Insgesamt ist die Arbeitszufriedenheit hoch. Getrübt wird sie allerdings durch den hohen Aufwand für administrative Tätigkeiten, Zeit- und Kostendruck bei Behandlungen sowie eine hohe Arbeitsbelastung und wenig Möglichkeiten, Teilzeit zu arbeiten. 40 Prozent der im ambulanten Bereich tätigen Ärztinnen und Ärzte arbeiten gemäss der Befragung über 45 Stunden pro Woche (inklusive Teilzeitarbeitende). Bei Ärztinnen und Ärzten, die in Spitälern oder Kliniken tätig sind, liegt dieser Anteil bei rund 70 Prozent.

Ähnliche Vorstellungen über «gute Versorgung»

Stellt man die Anliegen der Bevölkerung und der Ärztinnen bzw. Ärzte gegenüber, sind sich beide Seiten insgesamt darüber einig, wie eine gute Versorgung auszusehen hat. Der Patient im Zentrum – dies wollen sowohl die Ärztinnen und Ärzte als auch die Bevölkerung. Neben der «patientenzentrierten Versorgung» sind auch andere Trends vereinbar mit den Wünschen und Vorstellungen beider Seiten. Dazu gehört das «Shared Decision Making»oder dass sich die Ärztinnen und Ärzte an evidenzbasierten Leitlinien orientieren.

Rückenwind für Massnahmen zur Kostendämpfung

Das Thema Kosten und Prämiensteigerungen beschäftigt die Bevölkerung. Knapp die Hälfte der Befragten hält die Höhe der Prämien nicht oder eher nicht für gerechtfertigt. Abstriche beim Leistungskatalog oder dem Zugang zu Innovationen zu machen, sind sie aber kaum bereit, auch wenn dafür die Prämien sinken würden. Andere Möglichkeiten, die Kosten im Gesundheitswesen zu senken, stossen hingegen auf mehr Akzeptanz, sowohl bei der Bevölkerung als auch bei der Ärzteschaft. Dazu gehören unter anderem die Förderung der ambulanten und koordinierten Versorgung, mehr Triage und Gatekeeping sowie die Stärkung der Gesundheitskompetenz und der Prävention.

Schlussfolgerungen der AGZ

Die meisten Befunde überraschen wenig, sondern belegen bestehende Erwartungen mit repräsentativem Zahlenmaterial. Die AGZ zieht daraus Schlussfolge­rungen, welche Gesundheitspolitik den Bedürfnissen der Bevölkerung entspricht.
• Erstens, da eine vertrauensvolle und partnerschaftliche Arzt-Patient-Beziehung gewünscht ist, sollten Patientinnen sowie Patienten und Ärztinnen sowie Ärzte in die Lage versetzt werden, alle notwendigen Informationen auszutauschen, partnerschaftlich medizinische Entscheidungen zu treffen und gemeinsam vorauszuplanen. Dafür braucht es in erster Linie Zeit. Politik und Tarifpartner sollten bei Tarifen grundsätzlich von Zeitlimitierungen bei Patientengesprächen absehen. Im Gegenteil sollten sie zusätzliche zeitliche Anforderungen darin berücksichtigen. Fehlende Zeit ist ein Hindernis für «Shared Decision Making», die gemeinsame Entscheidungsfindung oder «Advance Care Planning», das gemeinsame Vorausplanen. Beides verbessert die Versorgung und kann Kosten sparen.
• Zweitens, da der Hausarzt als erste und verfügbare Anlaufstelle eine zentrale Rolle spielt, sollte die Grundversorgung gestärkt werden. Universitäten und Weiterbildungsstätten sollten in ihren Curricula die Attraktivität der Grundversorgung hervorheben. Tarifpartner sollten durch eine attraktive Tarifgestaltung dazu beitragen und Kantone entsprechende Versorgungsstrukturen fördern. Die Hausarztpraxis als vertraute Anlaufstelle kann eine wichtige Rolle bei der Koordination übernehmen und gleichzeitig Teilzeitwünsche der Ärzte ermög­lichen.
• Drittens, da die Menschen nicht bereit sind, Abstriche bei der aktuell hohen Versorgungsqualität zu machen, sollten allgemeine Budgetlimitierungen tabu sein, denn sie rationieren nach dem Giesskannenprinzip. Besser sollte der Nutzen von Innovationen gezielt bewertet und Leitplanken für ihren Einsatz entwickelt werden, beispielsweise durch eine paritätische Kommission.

Fazit

Der Bevölkerung ist eine gute Versorgung wichtig. Wenn Angebot, Qualität und Verteilung medizinischer Leistungen dem Bedarf der Bevölkerung entsprechen, sind auch die Kosten dafür gerechtfertigt. Die Leitfrage sollte nicht sein «Wie finanzieren wir unser Gesundheitssystem?», sondern «Welches Gesundheitssystem wollen wir finanzieren?».

Download

Der Studienbericht kann als Kurz- und Langversion auf der Website der AGZ heruntergeladen werden: www.aerzte-zh.ch

Das Wichtigste in Kürze

• Nach Ansicht der AGZ drohen die Kostendämpfungsmassnahmen des Bundesrats an den Bedürfnissen und Ansprüchen der Bevölkerung und der Ärzteschaft vorbeizugehen.
• Die AGZ möchte zu einer Diskussion über bedarfsgerechte Gesundheitsreformen beitragen, die beim Nutzen für die Bevölkerung ansetzen und die Bedürfnisse der Leistungserbringer nicht ausser Acht lassen. Sie hat deshalb INFRAS mit einer Studie zu den Ansprüchen der Bevölkerung und der Ärzteschaft an das Gesundheitswesen beauftragt.
• Die Ergebnisse der INFRAS-Studie zeigen, dass Gesundheitsreformen möglich sind, die den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen, d.h. die Versorgungsqualität nicht verschlechtern, Leistungen nicht rationieren und trotzdem Kosten einsparen können.

L’essentiel en bref

• Pour l’organisation zurichoise AerzteGesellschaft des Kantons Zürich (AGZ) les mesures de maîtrise des coûts prises par le Conseil fédéral risquent de passer à côté des besoins et des attentes de la population et du corps médical.
• L’AGZ souhaite contribuer au débat pour élaborer des réformes de la santé adaptées aux besoins, basées sur le service apporté à la population, sans négliger les exigences des prestataires. C’est pourquoi elle a confié à l’INFRAS une étude portant sur les attentes de la population et du corps médical en matière de santé.
• Les résultats de l’étude de l’INFRAS montrent qu’il est possible de procéder à des réformes du système de santé permettant de répondre aux besoins de la population, à savoir ne pas dégrader la qualité des soins, ni rationner les prestations, tout en faisant des économies.
Dipl.-Volkswirtin
Juliane Fliedner
AerzteGesellschaft
des Kantons Zürich AGZ
Nordstrasse 15
CH-8006 Zürich
info[at]agz-zh.ch