Palliative Care und Hausarztmedizin

FMH
Ausgabe
2020/1920
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18884
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(1920):610-612

Affiliations
a Fachgruppe Ärzte palliative ch, Institut für Hausarztmedizin & Community Care Luzern (IHAM & CC); b Abteilung Public Health FMH

Publiziert am 06.05.2020

Vom Commitment zur konkreten ­Umsetzung

Grosse Grundversorgergesellschaften wie SGAIM und mfe anerkennen zusammen mit palliative ch, dass ­palliative Patientinnen und Patienten regional und in einem interprofessionellen Rahmen betreut werden sollten. Sie setzen sich dafür ein, dass unter ihren Mitgliedern die Standards und Werkzeuge der Palliative Care (wie runder Tisch, Betreuungsplan und Assessment wie beispielsweise nach SENS-Modell [1]) bekannt sind und der erhöhte Arbeitsaufwand, der bei pallia­tiven Patienten notwendig ist, im Tarif korrekt abge­bildet wird [2].
Eine erfolgreiche interprofessionelle Zusammenarbeit richtet sich nach der unantastbaren Würde des Menschen. Die Erkenntnis, dass der Mensch in seiner ­Vulnerabilität in der letzten Lebensphase auf Hilfe ­an­gewiesen ist und nicht nur ein Anrecht auf ein würdevolles Leben, sondern auch Sterben hat, soll Anlass einer neuen Sorgekultur im Sinne einer Caring Community sein. Diese Kultur setzt eine interprofessionelle Zusammenarbeit zum Wohle des «umsorgten» Patienten voraus, im Sinne einer Medizin, bei der die Patienten im Zentrum stehen. Man könnte auch von einer kommunalen Sorgekultur sprechen mit Vernetzung der verschiedenen «Welten», welche sich verantwortungsvoll und vertrauensvoll beteiligen.

Hausarztmedizin in einer 
Caring ­Community

Der Hausarzt betreut seine Patienten über Jahre und ist in der Regel ihr erster Ansprechpartner in Gesundheitsfragen. Er kommt auch nach Hause, kennt die ­lokalen Verhältnisse und verfügt über ein grosses ­Beziehungsnetz. Dieses Berufsverständnis gibt dem Hausarzt einen unersetzlichen Mehrwert, den er in die interprofessionelle Zusammenarbeit einbringen kann.

Voraussetzungen für den Erfolg einer interprofessionellen Zusammenarbeit

Gemeinsame Werte prägen eine fruchtbare Zusammenarbeit wie die Bereitschaft, die Bereiche der verschie­denen Professionen mit ihren Kompetenzen und Fähigkeiten kennenzulernen und sie als Bereicherung zu erfahren und nicht als Konkurrenz. Das Arbeitsverhältnis zeichnet sich durch eine gegenseitige Wertschätzung aus, ein Arbeiten «auf Augenhöhe» mit ­synchronisierten Arbeitsabläufen und Handlungen. Zentral ist dabei die Zielsetzung, sich nach den Bedürfnissen, Symptomen und Problemstellungen der betroffenen Patientinnen und Patienten sowie ihrer ­nahestehenden Bezugspersonen zu richten. In der konkreten Betreuung von Patienten gilt es, am sogenannten «runden Tisch» die Kompetenzen, Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten zu klären. Als Basis einer erfolgreichen Zusammenarbeit dienen dabei konsensbasierte Standards und Arbeitswerkzeuge.

Konsensbasierte Standards und Tools

Das SENS-Modell hat sich in der Grundversorgung als mögliches Assessmentinstrument zunehmend verbreitet [1]. Mit den Kompetenzen «Entscheidungsfindung» und «Symptom-Management» wird die Autonomie des Menschen mit dem Ziel der Selbstbestimmung und Selbsthilfe unterstützt. Die Kompetenzen «Netzwerkorganisation» und «Support der Bezugspersonen» fördern die soziale Integrität und bieten Sicherheit im Sinne von «Aufgehobensein».
Die erwähnten Kompetenzen im SENS-Modell lassen sich modular in einem Betreuungsplan [3] abbilden. Dieser dient als Handlungsrichtlinie des interprofes­sionellen Teams. Damit sollen die Grundbedürfnisse unseres menschlichen Daseins respektiert und die Würde des Menschen gewährt sein.
Polymorbide Patientinnen und Patienten werden nicht selten durch eine ausgedehnte Polypharmazie belastet. Ein einheitlicher Medikamentenplan, bei dem alle nicht indizierten Medikamente abgesetzt werden, verbessert einerseits die Medikamenten­sicherheit und ­reduziert andererseits die Behandlungslast des Pa­tienten. Dabei kann eine digitale inter­professionelle Plattform [3], bei der alle beteiligten Professionen beteiligt sind, die Kommunikation stark verbessern.
© palliative ostschweiz.

Hohe Zahl an Hausbesuchen

Gemäss einer aktuellen, schweizweiten Erhebung im Sentinella-Netzwerk (noch nicht publizierte Daten IHAM & CC) bieten 84% der befragten Hausärzte Hausbesuche an, welche 1,8% aller Konsultationen aus­machen. 50% der Hausbesuche finden in Institutionen wie Pflegeheimen statt. Die meisten Befragten Ärztinnen und Ärzte erachten Hausbesuche als wichtig oder sehr wichtig. Als häufigste Motivation für Hausbe­suche wird die Serviceleistung für den Patienten genannt.

Ein neues CAS Palliative Care in Luzern

Seit Herbst 2019 bietet die Universität Luzern in Kooperation mit dem Kantonsspital Luzern einen neuen Zertifikatslehrgang «CAS Palliative Care» als fokussierte Weiterbildung an. Als Teil des ersten Moduls «Palliative Medizin und Begleitung» ist ein Kurstag dem Thema «Palliative Care in der Hausarztmedizin und Home-Based Palliative Care» gewidmet. Nach einem mehrstündigen ­interaktiven Referat mit facettenreicher Einführung ins Thema (Christoph Cina) führt das Institut für Hausarztmedizin & Community Care Luzern am Nachmittag drei parallele Workshops durch.

Workshops im Rahmen des CAS 
Palliative Care in Luzern

In den folgenden Workshops werden verschiedene Schwerpunkte der Palliative Care in der Hausarztmedizin anhand von Patientenbeispielen beleuchtet.

«Symptomkontrolle im hausärztlichen Setting» (Andreas Lischer)

Das erste «S» im SENS-Assessment betrifft die Sym­ptome und widerspiegelt oft auch die «erste» Sorge unserer Patienten, wenn es um ihre letzte Lebensphase geht: «Muss ich ersticken?», «Werde ich starke Schmerzen haben?», «Werde ich verwirrt sein?». Ein durchdachter und verständlicher Medikamenten-Notfallplan, aus dem fundierte Kenntnisse der aktuellen Situation und vorausschauende Planung ersichtlich sind, kann diesen Fragen die Schärfe nehmen und Vertrauen schaffen. Unabdingbar ist, dass dieser Plan auch in der Nacht und am Wochenende funktionieren muss, wenn unerwünschte und unnötige Hospitalisationen vermieden werden sollen.
Bei sich rasch verändernder Situation sind allerdings zusätzlich die mentale und physische Präsenz des Hausarztes sowie seine telefonische Erreichbarkeit gefragt. Ein paar Hilfsmittel in der Hand des Hausarztes können hilfreich sein: Das Pulsoxymeter oder ein Präsenzlabor erleichtern in bestimmten Situationen eine Entscheidungs- oder Dosisfindung. Elektronische Tools unterstützen ihn zum Beispiel bei der Opioid-Rotation oder bei Fragen der Zermörserbarkeit von Tabletten. Meist genügen aber menschliches Gespür sowie klinische Intuition und Professionalität für eine tragfähige Entscheidung.

«Würde und Demenz – eine besondere Herausforderung» (Christian Studer)

Der Anteil an über 85-jährigen demenzkranken Menschen liegt bereits im zweistelligen Prozentbereich. Nicht selten zieht sich die Palliative Care über Monate bis Jahre hin. Die Urteilsfähigkeit nimmt sukzessive ab. Bei Vorliegen einer dementiellen Entwicklung hat die schweizerische Rechtsprechung eine Beweislast­um­kehr entschieden: Wer Urteilsfähigkeit behauptet, trägt dafür Beweislast [4]. Eine Teil-Urteilsfähigkeit für spezifische Fragestellungen muss also bewiesen werden.
Bei der Betreuung stehen aber nicht die Defizite, sondern die Ressourcen im Vordergrund, um die Rest-­autonomie, Sicherheit und das Selbstwertgefühl der Demenzerkrankten und somit deren Würde zu fördern. Es gilt, diese Restautonomie möglichst lange zu erhalten und dabei die aktuellen Aktivitätsmöglichkeiten des Patienten zu evaluieren und zu respektieren. Da Brücken in die Vergangenheit einbrechen, können auch neue Werte entstehen, die die Umgebung brüskieren können. Es braucht eine Grosszügigkeit der im Umfeld betreuenden Menschen mit dem Augenmerk auf die Balance zwischen Erhalt einer Teil-Autonomie und Übernahme von Fürsorge.

«Chancen und Risiken der Palliativbetreuung – mit den Angehörigen im gleichen Boot» (Christoph Merlo)

Interessanterweise betrachten sich sowohl die Angehörigen als auch die medizinischen Fachkräfte wie Ärzteschaft und Pflegende als Schlüsselpersonen für die Koordination der häuslichen Palliativbetreuung [5]. Eine Rollenklärung und gegenseitige Unterstützung sind deshalb Voraussetzung, auch um anhand gezeigter Beispiele bei Situationen mit schwer kontrollierbaren Schmerzen, einer Stuhl- und Urininkontinenz oder ­exulzerierenden Tumoren eine gute Betreuung zu erreichen. Auf die persönlichen und sozialen Ressourcen der Angehörigen ist zu achten, gemäss deren die betreuenden Pflegefachkräfte, der Hausarzt und weitere Personen des Betreuungsteams Unterstützung gewährleisten.

Wie schaffen wir die konkrete Umsetzung?

Palliative-Care-Angebote sollten zum festen Bestandteil von Ausbildung der künftigen Grundversorger und der Fortbildung werden. Das Lernen aus positiven Beispielen (Modelle guter Praxis) eignet sich insbesondere auch für hausärztliche, interdisziplinäre und interprofessionelle Qualitätszirkel. Idealerweise können so in der praktischen Versorgung eigentliche Care Communitys gebildet werden.
FMH
Abteilung Public Health,
Elfenstrasse 18, Postfach 300,
CH-3000 Bern 15,
public.health[at]fmh.ch
1 Eychmüller Steffen. SENS macht Sinn – Der Weg zu einer neuen Assessment-Struktur in der Palliative Care. Ther Umsch. 2012 Feb;69(2):87–90.
2 Sind wir Hausärzte bereit für Palliative Care? PHC. 2020;20(2):77–8.
5 Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Angewandte Psychologie. Projektbericht «Palliative Care in der Schweiz – die Sicht der Leistungserbringenden» (NRP 74).