Digitalisierte Notfallversorgung

Tribüne
Ausgabe
2020/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18890
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2526):821-823

Affiliations
Redaktorin Print Online

Publiziert am 17.06.2020

Kann die Digitalisierung dazu beitragen, die Notfalldienste zu entlasten? Das Inselspital Bern ist davon überzeugt: Seit Herbst 2019 verfügt es über die Abteilung «eNotfallmedizin». Im Februar organisierte das Unispital einen nationalen Kongress zum Thema. Verschiedene Anwendungen der Telenotfallmedizin, unter anderem auch mit künstlicher Intelligenz, wurden vorgestellt, die die Ärzteschaft in ­Notsituationen unterstützen sollen. Ein Ansatz, der in einer Zeit, in der die Coronavirus-Pandemie Krankenhäuser auf der ganzen Welt überlastet, umso relevanter ist.
Die Digitalisierung betrifft immer mehr Bereiche in der Medizin. Digitale Hilfsmittel können beispielsweise dazu beitragen, Notfalldienste zu entlasten und den wachsenden Ärztemangel in ländlichen Gebieten abzumildern. Um den Nutzen und die Weiterentwicklung solcher Innovationen drehte sich der Kongress für Telenotfallmedizin des Inselspitals Bern. Die Veranstaltung zog rund 100 Teilnehmende aus ganz Europa an. In seiner Eröffnungsrede begrüsste der Berner Regierungsrat und Gesundheitsdirektor Pierre-Alain Schnegg die In­itiative des Inselspitals: Dieses eröffnete im Herbst 2019 unter der Leitung von PD Dr. med. Thomas Sauter, MME, die Abteilung «eNotfallmedizin» am Universitären Notfallzentrum – die erste in der Schweiz. Dem Notfallzentrum des ­Inselspitals wird eine Stiftungsprofessur für Telenotfallmedizin angegliedert sein, welche in Europa einzigartig ist.

Gesucht: Ärztinnen und Ärzte auf dem Land

Die notärztliche Versorgung aus der Ferne kann er­folgreich angewendet werden, wie Dr. med. Frederick Hirsch, Facharzt für Anästhesie aus Aachen (D), anhand des Aachener Telenotarztsystems am Symposium vorstellte. Ziel dieses Systems ist die Unterstützung ländlicher Gebiete in Deutschland, die einen akuten Ärztemangel aufweisen. Diagnosen werden gestellt und das Rettungsdienstpersonal vor Ort unterstützt, ohne dass ein Arzt vor Ort interveniert. Über eine «Box» werden die Vitaldaten und ein Videobild des Patienten in Echtzeit an die Telenotarzt-Zentrale übertragen. Eine Ärztin oder ein Arzt analysiert die ­Daten und beurteilt, ob eine Telekonsultation ausreicht oder ob ein Arzt vor Ort mobilisiert werden muss. Die Zahlen zeigen, dass das «Aachener Telenotarztsystem» sinnvoll ist: Das Gespräch zwischen dem Team vor Ort und der Ärztin in der Zentrale dauert im Schnitt weniger als zehn Minuten und trägt dazu bei, dass die durchschnittliche Einsatzdauer eines Telenotarztes nur 15 Minuten beträgt. Bei einer konventionellen Intervention dauert ein Einsatz im Schnitt 50 bis 60 Minuten. In fünf Jahren wurden so 18 000 Patienten behandelt – was rund zehn Interventionen pro Tag entspricht. Diese Zahlen belegen zwar die Nützlichkeit des Konzeptes, doch gibt es nach wie vor einige Hindernisse: eine nicht flächendeckende Netzabdeckung, die die landesweite Datenübertragung verhindert, Vor­urteile und Vorbehalte gegenüber den Technologien und fehlende gesetzliche Grundlagen.
Der Telemedizin wird teilweise noch mit Unverständnis begegnet, obwohl sie unzählige Möglichkeiten bietet.

Jede Minute zählt

Auch in der Neurologie nehmen die Telekonsultationen immer mehr zu, da dank der Digitalisierung wertvolle Minuten gespart werden können. Bei Schlag­anfällen sei Zeit ein wichtiger Faktor, betonte Prof. Dr. med. Simon Jung, Leiter des Neurologischen Notfall- und Konsildienstes am Inselspital. Schweizer Spitäler führen nach und nach Teleneuroradiologie ein, aber sie hinken den Krankenkassen hinterher, die seit langem eKonsultationen anbieten. Es gebe Nachholbedarf, so der Facharzt.
Die kardiologische Abteilung des Inselspitals überwacht einen Grossteil ihrer Patienten mit implantierten Defibrillatoren oder Ereignisrekordern telemedizinisch aus der Ferne. So können technische Probleme der Geräte und auch Rhythmusstörungen einfach und schnell erkannt werden, erklärte PD Dr. med. Laurent Roten, Leitender Arzt für Kardiologie. Die Gerätedaten werden von einem Patientenmonitor übertragen, der auf dem Nachttisch des Patienten oder der Patientin liegt, und können anschliessend von den behandelnden Ärzten analysiert werden. Die telemedizinische Nachsorge sei ein echter Mehrwert für Patienten mit implantierten Geräten, bringe Sicherheit, reduziere die Interventionszeit und werde von den Betroffenen sehr gut akzeptiert, so der Kardiologe. Strahlungsbelastung und Datensicherheit seien jedoch wiederkehrende Bedenken. Für das Personal besteht die Herausforderung darin, immer grössere Datenmengen zu verwalten. Der Aufwand müsse vernünftig bleiben, damit sich die Telemedizin im klinischen Alltag bewähre, betonte ­Roten. Eine gute Ausbildung ist daher zentral. Am ­Thomas Jefferson University Hospital in Philadelphia bemüht man sich, das medizinische Personal dies­bezüglich angemessen zu schulen. Prof. Aditi Joshi, ­Direktorin des Telemedizinprogramms «JeffConnect», hat dazu beigetragen, dass die Telemedizin in der Ausbildung der werdenden Ärztinnen und Ärzte berücksichtigt wird. Der Unterricht basiert hauptsächlich auf Simulationen.

Minispital als Experimentierfeld

Mit dem ersten Institut für Medizinische Informatik ist die Berner Fachhochschule (BFH) eine Pionierin auf dem Gebiet der Kopplung digitaler Anwendungen mit der Medizin. Die Studierenden forschen und arbeiten an Projekten, die zu konkreten Anwendungen führen, welche den Alltag der Ärzteschaft erleichtern sollen. Ziel des Instituts ist es, die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranzutreiben und für die Bevölkerung nutzbar zu machen. Für Experimente steht den Studierenden das «Living-Lab» zur Verfügung, ein realitätsnahes Labor, das am Kongress von Prof. Dr. Thomas Bürkle präsentiert wurde. Ausgestattet mit einem ­Miniaturkrankenhaus inklusive Operationssaal und Intensivstation, einer Arzt- und Physiotherapiepraxis, einer Apotheke, Bundesämtern, Versicherungen, einer Logistikabteilung und einer virtuellen Familienwohnung, repräsentiert das «Living-Lab» unser Gesundheitssystem in Lebensgrösse. Die verschiedenen Akteure sind durch Sensoren miteinander verbunden. Die Analyse der Informationsflüsse durch die Studierenden hat unter anderem ein Notfallprotokoll hervorgebracht.

In zehn Jahren zurückblicken

Die Digitalisierung im medizinischen Bereich berge ungeahnte Möglichkeiten, wie der Berner Gesundheitsminister Pierre-Alain Schnegg erklärte. Wir stünden am Anfang einer regelrechten Revolution. Eine ­Revolution, die auch Herausforderungen mit sich bringt, insbesondere in Bezug auf die Datenmenge. Wie weit sollen wir hierbei gehen?, wurde an der Podiumsdiskussion gefragt. Die schnell wachsende Menge an gesammelten Daten kann das Trainieren und Anwenden von künstlicher Intelligenz ermöglichen. Es seien jedoch nicht alle möglichen Anwendungen auch sinnvoll und nützlich. «Die Interessen der Patientinnen und Patienten müssen immer Priorität geniessen», betonte Laurent Roten. Die Ärzteschaft ihrerseits müsse in der Lage sein, die Informationen weiterhin zu sortieren und zu analysieren. Auch dürfe die Technologie die Erfahrung der Ärztinnen und Ärzte nicht auf den zweiten Platz verweisen. Im Gegenteil: Der Mensch stehe nach wie vor an erster Stelle und sei der zentrale Akteu­r, dessen Aufgabe es sei, die Technologien gezielt einzusetzen und zu verbessern, so Pierre-Alain Schneg­g. Roboter würden die Ärzteschaft nie ersetzen, die Technik könne sie aber unterstützen. «Ich freue mich, in zehn Jahren zurückzublicken und festzustellen, dass wir 2020 noch zu naiv waren und all die Möglichkeiten der Telemedizin noch unterschätzt haben», meint abschliessend Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos, Chefarzt und Klinikdirektor des Universitären Notfallzentrums am Inselspital.
PD Dr. med. Thomas Sauter, MME leitet die neue Abteilung «eNotfallmedizin» des Inselspitals.
Mehr Artikel zum Thema eNotfallmedizin in der SÄZ und online:
«Notfallversorgung im digitalen Zeitalter», 27.1.2020, https://saez.ch/tour-dhorizon/post/notfallversorgung-im-digitalen-zeitalter
julia.rippstein[at]emh.ch