Über den Stellenwert der Gesundheit in Corona-Zeiten

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18963
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2324):778

Affiliations
Prof. Dr. rer. soc., Redaktor Kultur, Geschichte, Gesellschaft

Publiziert am 03.06.2020

«Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts», lautet eine beliebte Redensart. Menschen mit Zahnschmerz oder Tinnitus etwa werden sie gut nachvollziehen können. In der Regel dient der Aphorismus dem Appell, dass Gesundheit im Leben das höchste Ziel darstellen sollte.
Redensarten und die Botschaft hinter ihnen sind in der Regel nicht überzeitlich, sondern jüngeren Datums. Auch in diesem Fall. Mit dem Fachbegriff der «Medikalisierung» bezeichnet die Geschichtsschreibung den Umstand, dass gerade in den letzten rund zweihundert Jahren immer mehr Lebensbereiche unter den Einfluss medizinischer, gesundheitsbezogener Deutungsmacht geraten sind. Burnout als Krankheit oder die Ernährung und der Sport als Körperpraktiken sind jüngere Medikalisierungsfelder. «Das ist gesund/ungesund» hat sich in diesem verbreiteten Denkregime zum letzten, entscheidenden Argument entwickelt – ähnlich dem Einstiegs-Aphorismus.
Nun kommt Corona. Und mit dem Virus ein ungekannt heftiger globaler Medikalisierungsschub. Innerhalb kürzester Zeit wurde unser gesamter Alltag, von der Frage, ob wir die Enkel umarmen oder in welcher Richtung wir den Lützelsee umrunden dürfen, bis zur Entwicklung des globalen Wirtschaftsgefüges einer medizinischen, besser: einer bestimmten infektiologischen Logik untergeordnet: Im Kern eine Art «Medikokratie», aber ganz anders als deren biotechnologische Variante, die der Philosoph Peter Sloterdijk vor 20 Jahren noch vorausgesehen hatte. Infektionsschutz war im öffentlichen Sprechen über Corona plötzlich nicht einmal das letzte, sondern oft das einzig legitime Argument, mit dem Anspruch alternativloser Objektivität. Anderes war, um es mit Michel Foucault auszudrücken, im Diskurs einfach nicht mehr «sagbar». Selbst kritische Stimmen folgten meist der Dominanz des Medizinischen.
Corona-Massnahmen vom anfänglichen Fastnachts-Verbot bis zur Wiederöffnung der Schulen etwa waren und sind allerdings nie einfach medizinische und deshalb objektiv notwendige Entscheidungen. Sie sind de facto immer auch das Ergebnis einer Abwägung zwischen dieser medizinisch-epidemiologischen Logik und anderen Logiken. Im Fall der genannten Beispiele: Wie viel Traditionen oder Bildung verunmögliche ich zugunsten angenommener gesundheitlicher Sicherheit? Vice versa.
Der «Rest des Lebens» fand nach dem Medikalisierungsschub nur langsam wieder zu einer öffentlichen Sprache. Dies begann meinem Eindruck nach mit dem Zweifel, ob wir Moribunde auf der Basis eines absolut verstandenen Infektionsschutzes getrennt von ihren Nächsten sterben lassen können. Das ist viel mehr als eine medizinethische Frage, sondern diejenige, welche Dominanz welche Form von Gesundheit in einer Gesellschaft haben soll. In den nächsten Wochen folgte eine Lawine weiterer Themen. Können und sollen wir für diesen Epidemieschutz unsere Gewaltenteilung aushebeln, Freiheitsrechte aufgeben, unser Alltagsleben auf den Kopf stellen und vielen Firmen, Selbständigen und Angestellten an die wirtschaftliche und berufliche Existenz gehen? Gerade auch die selbständige Ärzteschaft war und ist damit konfrontiert.
Es ist kein Zufall, dass in Deutschland die Autorin und Verfassungsrichterin Juli Zeh der nicht medikalisierten Logik vor allem in der Frage der Grundrechte eine Stimme gab [1]. Ihr dystopischer Roman Corpus Delicti von 2009 hat den verabsolutierten Gesundheitsstaat zum Thema.
Seit der Lockerung des Lockdowns wird das nicht unmittelbar Gesundheitliche unter Corona noch breiter angesprochen: anhand geöffneter Blumenläden, eines richtigen Gottesdienstes oder des Grundbedürfnisses des körperlich-sozialen Beieinanderseins. Die Streitlinie der Medikalisierungsfrage verläuft dabei zwischen einem «Infektionsschutz»-Milieu und einem vielstimmigen «Das Leben ist mehr als Infektionsschutz»-Milieu, oft über politische Parteigrenzen hinweg.
Kaum je konnte so plastisch deutlich gemacht werden, dass Gesundheit kein eigenständiger Lebensbereich ist. Die Gesundheit ist wie in einem Mobile mit dem ganzen Rest des Lebens verbunden. Und es wurde deutlich, welche Konsequenzen die absolute Vorherrschaft gesundheitlicher Logik haben kann. Der Stellenwert von Gesundheit im Vergleich zum Rest des Lebens muss deshalb in einer offenen Gesellschaft offen ausgehandelt werden. Denn, in Abwandlung der Redensart: Gesundheit mag wichtig sein, aber nur mit Gesundheit ist auch alles nichts [2].
eberhard.wolff[at]saez.ch
1 «Es gibt immer eine Alternative.» Interview mit Juli Zeh. Süddeutsche Zeitung, 4. April 2020.
2 Ähnliche Überlegungen wie dieses «Zu guter Letzt» greift Sprenger RK: ­«Virologen regieren die Welt [...]», Neue Zürcher Zeitung, 30. März 2020, aus anderer Perspektive auf.