Neue Mitgliederumfrage des vsao

Arbeitszeiten in Spitälern: kein Ende der Missstände

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2020/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18965
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2324):739-740

Affiliations
Leiter Politik und Kommunikation / stv. Geschäftsführer vsao

Publiziert am 03.06.2020

Geltendes Recht missachten? Geht doch nicht, würde man meinen. Die neue Mitgliederumfrage des vsao zeigt: geht sehr wohl. Denn fast zwei Drittel seiner Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte erleben Verletzungen des Arbeitsgesetzes. Und bei noch mehr gibt es Verstösse gegen die vertragliche Arbeitszeit. Unter den Folgen leiden immer mehr Betroffene – aber auch Patientinnen und Patienten.
Aller guten Dinge sind leider nicht immer drei. Das belegt die Studie, die das Institut DemoSCOPE zum dritten Mal bei den vsao-Mitgliedern durchgeführt hat. «Ja, die Situation ist besorgniserregend – und das nicht erst seit kurzem, wenn man den Vergleich mit 2017 und 2014 macht», zieht Verbandspräsidentin Anja Zyska Bilanz. «Deshalb muss die Einhaltung des Arbeitnehmerschutzes in den Spitälern endlich rigoroser kontrolliert werden – mit Sanktionen bei Verstössen.»
Doch der Reihe nach. An der jüngsten Erhebung von Januar bis März 2020 nahmen fast 3000 Personen teil. Bei 62 Prozent von ihnen widersprechen die Arbeitszeiten nach wie vor dem Gesetz. Jede(r) Zweite steht im Wochenschnitt länger als die rechtlich zulässigen 50 Stunden im Dienst. Hochgerechnet auf ein Vollzeitpensum sind es im Mittel nach wie vor fast 56 Stunden. Zwar ist die Zahl der jährlichen Überstunden dabei auf insgesamt gut 137 Stunden gesunken. Allerdings gibt es nur bei den Oberärztinnen und -ärzten eine positive Entwicklung. Mit über 141 Stunden erreicht der Wert bei der Assistenzärzteschaft hingegen einen neuen Negativrekord. Ein Lichtblick immerhin: Die Vorschrift, nicht mehr als sieben Tage hintereinander zu arbeiten, wird immer besser und aktuell von drei von fünf Befragten eingehalten.
«Geld darf kein ­Argument sein, um ungesetzliche und ­ungesunde Arbeits­bedingungen gutzu­heis­sen. Vor allem nicht, weil die Folgen viel mehr kosten als Investitionen in den Arbeitnehmerschutz», sagt Anja Zyska, vsao-­Präsidentin (Bild: vsao).

Arbeitsvertrag oft Papiertiger

Wiederum bedenklich präsentiert sich der Vergleich zwischen Theorie und Praxis, wenn man die Arbeitszeiten nach Vertrag an der Realität misst. So arbeiten 69 Prozent der vsao-Mitglieder länger als vereinbart, und zwar mit steigender Tendenz. Durchschnittlich werden aber 2,5 der wöchentlich erbrachten Arbeitsstunden nicht erfasst – besonders jene, welche die Höchstarbeitszeit überschreiten.
Diese Situation kontrastiert mit anderen Feststellungen. Insgesamt geht nämlich die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zurück, was jedoch an der Zunahme von Teilzeitpensen liegt, vor allem bei Oberärztinnen und ­-ärzten. Mehr noch: Sowohl Vollzeit- als auch Teilzeiterwerbende wünschen sich vermehrt, weniger arbeiten zu müssen. 80 Prozent sprechen dabei von maximal 42 anstelle der gesetzlich erlaubten 50 Stunden pro Woche. Umgekehrt zeigt sich nur 1 Prozent bereit, den Dienstkittel länger als das Arbeitsgesetz zulässt überzustreifen.

Ausgelaugt und erschöpft

Bedenklich ist nicht nur, wie Anspruch und Wirklichkeit zusehends auseinanderklaffen. Die Diskrepanz könnte auch erklären, warum die Arbeit immer mehr zur Belastung wird. Mittlerweile fühlen sich fast sieben von zehn Umfrageteilnehmenden mindestens ab und zu ausgelaugt und/oder emotional erschöpft, rund ein Drittel sogar regelmässig. Was so weit geht, dass 39 Prozent gelegentlich «ich kann nicht mehr» denken. Für die Patientinnen und Patienten bleibt das nicht ohne Konsequenzen. Gut die Hälfte der Befragten hat in den letzten zwei Jahren Gefährdungen durch übermüdete Ärztinnen/Ärzte erlebt – 14 Prozent mehr als noch 2014. Entlastungspotenzial sehen die Befragten bei zahlreichen administrativen Aufgaben, was der vsao mit der Kampagne «Medizin statt Bürokratie!» unterstützt, aktuell mit Pilotversuchen in zwei Kliniken in der Deutsch- und der Westschweiz.
«Ebenso wichtig ist in diesem Zusammenhang die Dienstplanung, bei der wir die Spitäler mit einem kosten­losen Beratungsangebot unterstützen», ergänzt Verbandspräsidentin Zyska. «Aber klar ist: Weniger arbei­ten müssen bedeutet in erster Linie auch, die Arbeitslast auf mehr Schultern zu verteilen.» Geld dürfe kein Argument sein, um ungesetzliche und ungesunde Arbeitsbedingungen gutzuheissen. «Vor allem nicht, weil die Folgen viel mehr kosten als Investitionen in den Arbeitnehmerschutz. Man denke nur an die gesundheitlich bedingten Personalausfälle oder an Berufsausstiege und eben die Patientengefährdungen.»
39% der Befragten denken gelegentlich «ich kann nicht mehr». Vier von fünf möchten höchstens 42 Stunden pro Woche arbeiten – und nur 1% länger als vom Gesetz erlaubt (Bild: © Wave Break Media Ltd | Dreamstime.com , Symbolbild).

Diskriminierung für viele ein Thema

Erstmals in die Studie aufgenommen wurde das Thema Diskriminierung im beruflichen Rahmen. Ein Phänomen, das weit verbreitet zu sein scheint, hat es doch jedes zweite Mitglied bereits (mit-)erlebt. Es betrifft eher Frauen und Nachteile durch das Geschlecht allgemein bzw. spezifisch durch Schwangerschaft und Elternschaft. Bei Männern spielen die Nationalität/Ethnie und der Migrationshintergrund die Hauptrolle. Je mehr zudem jemand arbeitet, desto höher ist das Risi­ko, diskriminiert zu werden. Mit Konsequenzen speziell für das psychische Wohlbefinden, die ärztliche Weiterbildung und die Arbeitssituation.
Der vsao kämpft seit langem gegen die geschilderten Missstände. Was sind deren Hauptgründe? Für Anja Zyska «erstens der Spardruck bzw. das Renditedenken, denn unsere Mitglieder gehören in der Ärztehierarchie zu den schwächeren und lohnmässig günstigeren Gliedern. Zweitens leiden gerade sie unter der Bürokratie­flut. Die aber geht auf Kosten der Patientenbetreuung und erhöht die Arbeitsbelastung.» Drittens spiele eine gewisse Tradition mit eine Rolle, nach dem Motto: «Das war doch schon immer so – warum soll es sich ändern?» Oft werde dabei vergessen, «dass unsere Mitglieder nicht nur arbeiten, sondern auch eine gute Ausbildung erhalten sollten. Darauf haben sie ein Recht.»

Ausgelaugt und erschöpft

Bestärkt durch die Umfrageergebnisse sowie die Erfahrungen in der Corona-Krise, fordert der Verband nun von Politik und Spitälern:
1 Schluss mit immer mehr Sparen und Renditedenken! Es braucht im Gesundheitswesen genug Personal und Infrastruktur, um die Versorgungsqualität und Patientensicherheit zu garantieren.
2 Das Arbeitsgesetz ist keine Empfehlung – es ist ein Muss. Damit es konsequent eingehalten wird, sind strengere Kontrollen und Sanktionen bei Verstös­sen nötig.
3 Ärztliche Aus- und Weiterbildung ist unverzichtbar. Die Qualität und die Durchführung müssen unabhängig von ausserordentlichen Lagen, Sparzwängen oder Zeitdruck gewährleistet sein.
4 Einfache und effiziente Abläufe – statt einfach mehr Bürokratie. Es braucht noch mehr und koordinierte Bemühungen, um unnötige Administration zugunsten der Patientenbetreuung abzubauen.
Detailliertere Informationen zur aktuellen vsao-Umfrage unter: vsao.ch/medien-und-­publikationen/

Das Wichtigste in Kürze

• Die neue vsao-Mitgliederumfrage liegt vor.
• Fast zwei Drittel der Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte erleben Verletzungen des Arbeitsgesetzes, bei noch mehr gibt es Verstösse gegen die vertragliche Arbeitszeit.
• Jede bzw. jeder Zweite steht im Wochenschnitt länger als die rechtlich zulässigen 50 Stunden im Dienst.
• Bei den Oberärztinnen und -ärzten ist die Zahl der Überstunden gesunken, bei der Assistenzärzteschaft erreicht der Wert mit über 141 Stunden einen neuen Negativrekord.
• Fast sieben von zehn der Befragten fühlen sich mindestens ab und zu ausgelaugt und/oder emotional erschöpft, rund ein Drittel sogar regelmässig.
• Der vsao ruft zur Abkehr vom reinen Renditedenken auf und verlangt die konsequente Verfolgung von Verstössen gegen das Arbeitsgesetz.