Altersguillotine in der Triage

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18980
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2324):746

Publiziert am 03.06.2020

Altersguillotine in der Triage

Ich unterstütze die klare Stellungnahme von Herrn Killer und Frau Bruppacher zu den Triagerichtlinien der SAMW, die im März dieses Jahres kurzfristig angesichts der Covid-19-­Pandemie erstellt wurden. Dass eine Altersguillotine messerscharf über die Aufnahme auf die Intensivstation und damit über Leben und Tod entscheiden soll, ist unhaltbar.
Die Triage ist Kernpunkt der Kriegs- und Katastrophenmedizin bei Massenanfall von Pa­tientInnen, mit der nach traditionellen Regeln das Überleben möglichst vieler Menschen gesichert werden soll und die sich grundsätzlich von ärztlichen Alltagsentscheiden auf Notfallstationen unterscheidet. Aber warum werden angesichts der Ressourcenknappheit (Kapazitätsengpässe im marktlogisch zusammengesparten Gesundheitswesen) jetzt plötzlich die Regeln verändert? Auch andere Länder haben kurzfristig neue Richtlinien verfasst, die ältere Menschen in Triagesituationen benachteiligten: so Italien (Vorrang der Anzahl geretteter Lebensjahre gegenüber dem Überleben) und Schweden (im Karolinska Universitäts­institut Intensivpflege erst bei einem «biologischen Alter unter 80 Jahren» indiziert). Im Elsass erhielten (nach Berichten aus Deutschland, die zum Teil aus Frankreich offiziell bestätigt, zum Teil heftig bestritten wurden) über 80-Jährige keine Intubationen mehr oder wurden aus den Alters- und Pflegeheimen überhaupt nicht mehr in Spitäler eingeliefert. Übrigens: Im Kanto­n Zürich dürfen laut einer Corona-Verordnung unter Strafandrohung bei Widerhandlung PatientInnen in Altersheimen nur noch in Spitäler verlegt werden, wenn es «zwingend erforderlich» ist (Originalton: «z.B. Schenkelhalsfraktur», nicht etwa «Pneumonie») und Aussicht auf Behandlungserfolg besteht.
In der Schweiz hat die SAMW am 20.3.2020 neue Hinweise zu ihren Richtlinien «Intensivmedizinische Massnahmen» von 2013 ver­öffentlicht: «Covid-19-Pandemie: Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit». Bei den neuen Kriterien geht es darum, den ÄrztInnen Entscheidungshilfen zur Verfügung zu stellen. Die «kurzfristige Prognose: möglichst viele Menschenleben erhalten», nicht das Alter ist entscheidend. «Das Alter ist per se kein Kriterium, das zur Anwendung gelangen darf.»
Und dann: Kriterien für die Aufnahme auf Intensivstationen: «Erfüllt der Patient eines der nachfolgenden Nicht-Aufnahmekriterien? ... Alter >85 Jahre». Punkt. «... Alter >75 Jahre und mindestens ein Kriterium (Zirrhose, Nierenversagen Stadium III, Herzinsuffizienz HYHA >1)». Punkt ... «Wenn eines der Kriterien für die Nichtaufnahme vorliegt, wird der Patient nicht auf die Intensivstation eingewiesen.» Punkt. Ich habe es wieder und wieder gelesen. Wirklich, wie Killer und Bruppacher schreiben: Was ist das anderes als eine Diskriminierung von alten Menschen? Wer denkt sich so etwas aus?
In einem Aufsatz im Jusletter haben Mark-Anthony Schwestermann und die Rechtsprofessorin Christa Tobler kritisiert, dass die Richt­linien die Gefahr einer Altersdiskriminierung in sich bergen. Sie empfehlen dem Ethikrat, die Alterskriterien zu streichen. Hat die SAMW sich dazu geäussert?
In unserer Bundesverfassung steht: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.» Das Leben hat keinen Preis, sondern eine Würde (Kant). Alte kranke Menschen sind nicht weniger wert als junge gesunde. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben.