Wieviel Gesundheit darf Gesundheit kosten?

FMH
Ausgabe
2020/2324
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18989
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2324):727

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 03.06.2020

Die Corona-Pandemie versetzt den Bundesrat in eine Situation, die der Ärzteschaft gut bekannt ist: Er steht ganz konkret in der Verantwortung für die Gesundheit von Menschen. Und er handelt zunächst auch nicht anders, als wir es im Alltag tun: Er arbeitet rund um die Uhr, tut sein Bestes, zieht wissenschaftliche Evidenz heran, wägt ab und trifft schwierige Entscheidungen unter Unsicherheit mit dem Ziel, die Gesundheit der Menschen bestmöglich zu erhalten oder auch wiederherzustellen. Dafür erhält er Anerkennung – auch dies eine Parallele zu unserem Berufsstand.
Je mehr Zeit ins Land geht, umso deutlicher erfährt aber auch der Bundesrat ein Problem, das uns ebenfalls sehr gut bekannt ist: Die ergriffenen Massnahmen haben ihren Preis, den andere bezahlen müssen. Es stellt sich also die Frage: Wie viel darf die Gesundheit kosten? Wie viel Opfer kann und will die Bevöl­kerung für die gewonnenen Lebensjahre bringen? Welch­e Massnahmen sind wie wirksam? Wie ist die Kosten-Nutzen-Relation der verschiedenen Massnahmen?
Diese Fragen stellen sich in der Corona-Krise umso mehr, geht es hier doch nicht «nur» um die Höhe der Krankenkassenprämien und der Steuermittel, die für die Gesundheitsversorgung aufgewendet werden müssen. Die ergriffenen Massnahmen haben auch gesundheitliche Folgen, die bislang noch kaum quantifiziert werden können: Behandlungen anderer medizinischer Probleme werden aufgeschoben, Menschen mit krisenbedingten Existenzängsten und Mehrfachbelastungen geraten unter starken Stress, Isolation begünstigt Depressionen, Suchtverhalten und Suizid, Bewegungsmangel schadet allen Altersgruppen etc. Auch bei Massnahmen für die öffentliche Gesundheit wollen Wirkungen und Nebenwirkungen abgewogen sein.
Die genannten Beispiele zeigen, dass neben monetären Kosten durchaus auch Gesundheit gegen Gesundheit abzuwägen ist. Darüber hinaus ist Wohlstand eine zentrale Voraussetzung für Gesundheit, nicht nur weil er uns hilft, eine gute Gesundheitsversorgung zu finanzieren: Ein Lockdown rettet Leben – kann aber auch Existenzen vernichten. In Rezessionen nimmt der Hunger auf der Welt zu – und in der Schweiz Armut und Arbeitslosigkeit, was ebenfalls eine schlechtere Gesundheit und ein höheres Mortalitätsrisiko zur Folge hat.
In Notlagen steht die Politik wie die Medizin in der ­Verantwortung, unmittelbaren Schaden schnell zu ­verhindern. Nach Abwendung der unmittelbaren Gefahr stehen wir aber auch in der Verantwortung, nun differenzierter vorzugehen. Zentral ist dabei zu prüfen, welche Massnahmen wie und wo angewendet den grössten Nutzen erzielen, um die vorhandenen Ressourcen möglichst wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich einsetzen zu können. Was unser Krankenversicherungsgesetz mit WZW für solidarisch finanzierte medizinische Leistungen fordert, sollte auch für Massnahmen der öffentlichen Gesundheit gelten. Wenn Mittel wirksam, zweckmässig und ­wirtschaftlich eingesetzt werden, sollten sich Dis­kussionen, wie viel die Gesundheit kosten darf – sei es mit Blick auf das Gesundheitswesen oder mit Blick auf die politischen ­Corona-Massnahmen –, erübrigen. Denn mit willkür­lichen Kostengrenzen werden wir weder Patientinnen und Patienten noch der Bevöl­kerung als Ganzem gerecht, wenn es um ihre Gesundheit geht. Gerecht ­werden wir ihren Erwartungen an ­Qualität und Pro­fessionalität nur mit wirksamen, zweckmässigen und letztlich auch wirtschaftlichen Massnahmen. Wir wünschen dem Bundesrat viel Erfolg beim Bewältigen dieser anspruchsvollen Herausforderung!