Artikel 2 und die grösste Pandemie: Es gibt kein Recht, die Luft zu verschmutzen

Briefe / Mitteilungen
Ausgabe
2020/2526
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.18995
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2526):801

Publiziert am 17.06.2020

Artikel 2 und die grösste Pandemie: ­Es gibt kein Recht, die Luft zu ­verschmutzen

«Die Luftverschmutzung tötet zweimal mehr als vermutet», meldet Le Monde* und beruft sich auf Forscher der Universität Mainz, welche die Feinstaubpartikel als Ursache von weltweit 8,8 Millionen Todesfällen pro Jahr bezeichnen. Ihre Analyse kommt zum Schluss, dass der Ersatz der fossilen durch saubere und erneuerbare Energiequellen den Verlust an Lebenserwartung durch Luftverschmutzung substanziell verringern würde. Weiter geht die FAZ (siehe «Spectrum» in der SÄZ. 2020;101(15–16):552), wenn sie in der Corona-Pandemie unter dem Titel «Luftverschmutzung – mit Abstand die grösste Pandemie» schreibt: «80% der Schadstoffe produzieren Industrieländer.»
Das Bundesamt für Umwelt BAFU publizierte 2015 den Bericht: «Luftverschmutzung und Gesundheit». Er hält fest, dass jährlich 30 000 Lebensjahre verloren gehen wegen der Luft, die wir einatmen. D.h., die Verschmutzer schädigen die Gesundheit ihrer Nächsten und verschulden ca. 3000 Tote pro Jahr, und das völlig legal.
Der Rechtsstaat scheint seine Rolle zu erfüllen: im Gesetz regelt er die Luftverschmutzung, bestimmt Grenzwerte. Er gibt zu, dass sie oft und meist ohne Folgen für die Täterschaft überschritten werden, während Lungen und andere Organe der Verschmutzung nicht entrinnen. Selbst die Einhaltung der Grenzwerte beeinträchtigt die körperliche Unversehrtheit.**
Der Staat widerspricht sich selbst: Seine ­Verfassung beginnt mit der Präambel: «Im Namen Gottes des Allmächtigen!» Dies verpflichtet ihn zum Gebot: «Du sollst nicht töten.» Weiter heisst es: «Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht» und «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen». Demgegenüber steht die Tatsache, dass Krankheit die Freiheit mindert und der Tod sie einem nimmt. Artikel 10 ist noch klarer: «Jeder Mensch hat das Recht auf Leben … und auf körperliche Unversehrtheit.»
Kein Gesetz ist legal, sobald seine Anwendung zu Schaden und Tod von Bürgern führt. Die Bürger sind verpflichtet, das verfassungsmäs­sig geschützte und im Menschenrecht ver­ankerte Recht auf Leben gegen den Staat zu verteidigen, der «bewusst die Verantwortung missachtet, seine Bürger zu schützen», wie es die «Erklärung zur Unterstützung von Extinction Rebellion» formuliert, welche der Nobelpreisträger für Chemie J. Dubochet mit anderen Wissenschaftern in Le Temps*** veröffentlichte. Da­hin gehört der Artikel 2 der FMH-Deontologie, welcher die Ärzte zuerst darauf verpflichtet, Leben zu schützen und Gesundheit zu fördern, bevor sie Kranke verarzten.
Diese Tatsachen und Pflichten sprechen dem Staat das Recht ab, die Luftverschmutzung ­gesetzlich zu regeln, solange sie tötet. Die Evolution schreibt nirgends, dass die Luft Besitz von Menschen oder Staaten sei. Es gibt kein Recht, die Luft zu verschmutzen und sie als Abfalleimer zu missbrauchen.
Artikel 2 heisst: kein Handel mit Luftverschmutzungs-Zertifikaten, denn es gibt kein Recht, Gesundheit zu schädigen und Menschen zu töten.