Stirb, Coronavirus, stirb, oder:

Dr. Glaus im Webinar

Horizonte
Ausgabe
2020/3132
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19030
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(3132):956-957

Affiliations
Dr. med., Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, Mitglied FMH, Zürich

Publiziert am 28.07.2020

Dr. Glaus sitzt vor seinem Tablet und «zoomt». Er hat Zeit, denn er gehört zur Risikogruppe, allein seinem Alter geschuldet. Er fühlt sich eigentlich fit und in guter Form, aber dennoch sieht er sich als pensionierter Hausarzt mit Vorbildfunktion gezwungen, den Empfehlungen der Landesregierung während der Phase der starken Kontrollmassnahmen Folge zu leisten. Bevor Dr. Glaus in Rente ging, war er ein interessierter Kollege, der gerne auch wissenschaftliche Abhandlungen gelesen hat. Nun hat er plötzlich Zeit und konferiert regelmässig mit Freunden und Familie per Video. Eines Tages rief ihn ein ehemaliger Studienfreund an, der sich der Wissenschaft verschrieben hat. Der Zufall, vielleicht auch die Vorsehung oder ganz etwas anderes, wollte es, dass er zwischenzeitlich ein anerkannter Virenforscher geworden ist. Allerdings sind die ­Viren, die er erforscht, nicht in der realen Welt beheimatet, sondern entspringen der virtuellen. Aus der Dunkelheit des Netzes infizieren diese Viren Festplatten. Und nun sitzt Dr. Glaus also mit diesem Virenforscher und noch einigen weiteren Interessierten in einer Videokonferenz, und sie debattieren locker und zwanglos. Ihnen gemeinsam ist, dass sie keine Entscheidungen zu treffen haben. Professor Dr. Julius von Paperlapap, ein emeritierter Rhinozerosforscher, zitiert eine Studie, die er gestern gelesen hat. Ihn interessiert naturgemäss die Nase. Und eben nicht nur die von Nashörnern, sondern auch die von Kindern. Von seinen Enkeln Grossmuff genannt, hat er diesen versprochen, sich um sie zu kümmern während der Schulschliessung. Sie haben zusammen gespielt, natürlich nur virtuell. Schliesslich leidet der Professor an einer Geruchsstörung und wollte nichts riskieren. Auf jeden Fall zitiert er nun eine Nasenstudie, die gezeigt habe, dass die Rezeptoren, über die die Viren in die menschlichen Zellen gelangen, in Nasen von Kindern weit weniger stark exprimiert würden als in den Nasen von Erwachsenen. Dr. Glaus entgegnet, das sei interessant, aber wohl weit wichtiger sei, dass das Virus in schiefer Lage weitergegeben würde. Man spreche von Dispersion, was keine Farbe sei, sondern eine stochastische Grösse, ein Kappa, das zwischen 0 und 1 liege. Das führe dazu, dass die meisten Leute das Virus gar nicht oder höchstens an eine Person übertragen würden, während Super­spreader, die hiessen so und nicht etwa Supersprayer, wie Unbedarfte meinen könnten, zehn oder noch mehr Leute bedienen könnten. Das sei doch wirklich relevant. Nehmen wir mal an, die Basis-Reproduktionszahl sei 2 und wir hätten sie durch unsere Massnahmen auf 1 gesenkt, dann könnte es eben sein, dass von zehn Menschen neun das Virus höchstens an eine Person oder vielleicht an gar keine weitergeben und nur die zehnte Person zehn andere anstecken würde. Nur: Wie erkennt man, wer die zehnte Person ist? Daher motte wohl die Seuche, bis sie irgendwo wieder ­fulminant aufflamme. Das sei doch wie mit einem Schwelbrand. Dr. Benner wirft in die Runde: Er hätte da eine Idee. Wir machen ein CRISPR-Müesli und hängen einen fluoreszierenden Farbstoff dran. Wird jemand infiziert, dann leuchtet sein Ausstoss grün, wenn er denn ein Müesliesser sei. Das sieht man sicher gut in den Tanzlokalen nachts. Denn dort und wegen anderer nächtlicher Aktivitäten würden wohl die nächsten grös­seren Ausbrüche anstehen. Ja, wirklich, da ist sich die Runde einig. Es gäbe wohl viele, die nicht begriffen hätten, dass die Öffnung nach der Schliessung nichts mit der Pandemie, sondern viel mit dem Schaden, der durch die Schliessung angerichtet worden sei, zu tun habe. Sei es, wie es sei. Jetzt erstmal ausgiebig den ­Sommer geniessen, später dann dafür bezahlen. Die zweite Welle, kommt sie nun oder kommt sie nicht? Die mathematischen Modellierungen der Epidemio­logen sagen: Sie kommt! Doch wir wollen das gar nicht so genau erwägen. Denn eines, glauben wir, ist klar – wir können die Seuche nur in Schach halten, wenn wir testen, testen und nochmals testen, tracen und isolieren. Oder wir machen es doch wie die Japaner, die ihren eigenen Weg gegangen sind und mit Abstand am wenigsten Fälle und Tote (bezogen auf die Bevölkerung) bis heute gehabt haben. Ihr Vorgehen: Nicht testen, tracen und isolieren, sondern die drei C befolgen, wo und wenn immer möglich: Vermeiden von Closed spaces, Crowds und Close-Contact Settings. Und seitens der Behörden wird das vierte C ausgelebt: Cluster identifizieren und deren gemeinsame Charakteristika erfassen. Und natürlich sofort alle Personen eines Clusters nicht testen, sondern in Quarantäne stecken. Wegen der schiefen Lage müssten wir wohl sehr alert bleiben und sofort in Quarantäne schicken, bei leisestem Verdacht. Lieber zu viele als einen zu wenig. Wie aber Superspreader identifizieren? Carla Fluor, die regelmässig am Austausch teilnimmt, hat eine bestechende Idee. Wir könnten doch neben dem CRISPR-Müesli, das wir bereits mit fluoreszierendem Farbstoff versehen haben, dessen Halbwertszeit aber wohl zu kurz sei, um die Nachtschwärmer zu detektieren, das Sortiment auf der gleichen Basis mit Zahnpasta und Kaugummi erweitern. Durch eine App würde man erinnert, bevor man in den Ausgang gehe, Zähne zu putzen oder Kaugummi zu kauen, letzteres vor allem für die gedacht, die nach der Arbeit direkt in die Work-Life-Balance eintauchen. Dr. Glaus findet Carla Fluors Idee genial, Dr. Benner schon ein bisschen weniger, weil er befürchtet, die Erstautorenrechte könnten zu Carla transmittieren, was er aber immer noch besser findet, als wenn es das SARS-CoV-2 tut. Ja, die schiefe Lage und die Japaner. Der leitende Epidemiologe dort habe sich offenbar seine Sporen während der SARS-Epidemie 2003 abverdient, und das damals für den Ausbruch verantwortliche ­Coronavirus habe zu extremer Überdispersion geneigt. Das Kappa betrug 0,1, und die Leute wurden sehr krank, ehe sie ansteckend wurden, da jenes Virus zuerst in die Lungen gelangen musste, bevor es replizieren konnte. Das ist nun leider anders: Hier sind die asymptomatischsten Personen am ansteckendsten, und das Virus wird in der Nase vermehrt. Was wieder unseren Rhinozerosforscher, Prof. Paperlapap, auf den Plan ruft. Er sagt, papperlapapp, wir sind doch keine Japaner, die hätten eben viel plattere Nasen im Durchschnitt und bei ihnen habe das Maskentragen geradezu Tradition.
Die anatomischen Gesichtsverhältnisse von uns Kaukasiern würden eben keine ausreichende Abdichtung der Atemwege mit Masken zulassen. Er sei aber schon für das Maskentragen im ÖV. Interessanterweise seien aber in Tokio die notorisch überfüllten Nahverkehrszüge nicht für ein einziges Cluster verantwortlich gewesen, vermutlich weil die allermeisten Passagiere ­allein unterwegs seien und mit anderen Mitreisenden nicht sprächen, doch alle trügen Masken, freiwillig notabene. Dr. Glaus, der die heutige Videokonferenz verantwortet, teilt den anderen Teilnehmern mit, die Zeit laufe demnächst ab, und schlägt vor, sie könnten doch demnächst eine weitere Sitzung planen. Es mache ja Spass, und sie hätten keine Verantwortung zu übernehmen für alles, was sie so ventilierten, da ­keiner seine Aerosole und Tröpfchen an jemanden übertrüge. Etwas wehmütig kommt Dr. Glaus zum Schluss, dass es doch schön wäre, sich wieder in der ­realen Welt zu treffen, sobald alles vorbei wäre. Oder ist das Coronavirus nur gekommen, um das mensch­liche Leben zu digitalisieren? Lenkt uns die künstliche Intelligenz längst, und wir haben es bloss noch nicht bemerkt? Dr. Glaus kann und will einfach nicht glauben, dass er nur ein fremdgesteuerter Algorithmus ist, längst gehackt und umgepolt. Immer wieder ertappt er sich dabei, wie er denkt: Stirb, Coronavirus, stirb!
Forschungsgegenstand von Prof. Paperlapap: das Nashorn, völlig unberührt 
von der aktuellen Pandemie.
Daniel Schlossberg
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