Corona-Pandemie: Situation der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz

FMH
Ausgabe
2020/2930
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19060
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(2930):882-884

Affiliations
a Dr. phil., persönliche wissenschaftliche Mitarbeiterin des Präsidenten; b Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 14.07.2020

Die COVID-19-Pandemie stellt die Ärzteschaft vor besondere und neue Heraus­forderungen. Um die Auswirkungen der Pandemie auf die Ärztinnen und Ärzte der Schweiz besser zu erfassen, führte die FMH Ende Mai eine Befragung durch. Die ­Ergebnisse zeigen, wie sich die Situation für unsere berufstätigen Mitglieder ­zwischen März und Mai 2020 darstellte.
Spätestens als am 25. Februar 2020 der erste COVID-19- Patient in der Schweiz bestätigt wurde, dürfte den Ärztinnen und Ärzten unseres Landes deutlich geworden sein, dass eine besondere Herausforderung auf sie zukommen würde. Die medizinischen Einrichtungen in der Schweiz seien darauf vorbereitet [1], schrieb das Bundesamt für Gesundheit damals in einer Medienmitteilung. Erfahrungsberichte aus Arztpraxen [2] und die grosse Zahl von Mitgliederanfragen bei der FMH – vielfach zu fehlendem Schutzmaterial [3] – hinterlies­sen häufig jedoch einen anderen Eindruck. Auch zu ande­ren Aspekten der Corona-Krise schienen die Informationen und Eindrücke oft widersprüchlich: Während für die einen Arbeits- und Ruhezeiten aufgehoben wurden, um Mehrarbeit zu ermöglichen, durften andere als nicht dringend geltende Behandlungen nicht mehr durchführen, mussten Kurzarbeitsentschädigung für ihre Angestellten beantragen und sich zu den Möglichkeiten des Aufschubs von Kreditorenzahlungen ­informieren [3]. Auch die Ansteckungshäufigkeit von Ärztinnen und Ärzten blieb unklar. Während einerseits das BAG kommunizierte, das Gesundheitspersonal könne sich gut schützen [4], waren sich andererseits Ärztinnen und Ärzte angesichts fehlenden Schutz­materials dessen nicht sicher.
Um die Situation der Ärzteschaft im Zeitraum März bis Mai 2020 besser erfassen zu können, entschied die FMH, alle ihre Mitglieder zu kontaktieren, die gemäss Datenbank in der Schweiz berufstätig sind und für die zudem eine Mailadresse vorliegt. Die 33 269 Ärztinnen und Ärzte, auf die diese Kriterien zutrafen, wurden am 20. Mai 2020 per Mail gebeten, an einer etwa 5-minütigen Online-Befragung zur Corona-Pandemie teilzunehmen. Diese wurde Anfang Juni geschlossen.
12 111 und damit 36,4% der 33 269 angeschriebenen Ärztinnen und Ärzte nahmen an der Befragung teil, die Hälfte davon bereits am 20. und 21. Mai 2020. Unter den Befragten waren 6434 Männer (53,1%) und 5677 (46,9%) Frauen. Als Sprache wählten 71,5% Deutsch, 23,3% Französisch und 4,2% Italienisch. Jeder fünfte Befragte arbeitete im Kanton Zürich (20,2%), aber auch Kantone wie Bern (13,9%), Waadt (9,4%) oder Genf (8,0%) waren stark vertreten. Jeweils über 500 Befragte arbeiteten auch in den Kantonen Tessin, St. Gallen, Luzern, Basel-Stadt und Aargau. 95% der Befragten hatten bei ihrer Arbeit direkten Patientenkontakt.

Kontakt mit Corona-Verdachtspatienten oder COVID-19-Patienten

Im März 2020 hatte etwa ein Drittel der befragten ­Ärztinnen und Ärzte mindestens jeden zweiten Arbeitstag mit Corona-Verdachtspatienten oder bestätigten COVID-19-Patienten Kontakt. Im April waren es noch 27% und im Mai nur noch 12%. Gar keinen Kontakt mit dieser Patientengruppe hatte im März und April ebenfalls etwa ein Drittel, im Mai 2020 sogar fast die Hälfte der Befragten (Abb. 1). 26% der Befragten hatten im ­gesamten Zeitraum von März bis Mai mit keinem Corona-Verdachts­patienten oder COVID-19-Patienten zu tun.
Abbildung 1: «Wie häufig waren Sie etwa mit Corona-Verdachtspatienten oder COVID-19-Patienten in Kontakt?» (n = 11 149).

Verfügbarkeit von Schutzmaterial

Nicht zuletzt, weil fast jeder vierte Befragte (23%) angab, einer Risikogruppe gemäss der Definition des BAG anzugehören, kommt der Verfügbarkeit von Schutzmaterial besondere Bedeutung zu. In Hinblick auf Masken, Desinfektionsmittel und anderes Schutzmaterial zeigen die Antworten der Befragten jedoch klar eine Mangelsituation im März und auch noch im April 2020. Die Verfügbarkeit von Schutzmasken war im März nach Einschätzung von 57% der Ärztinnen und Ärzte eher oder sehr schlecht, auch im April war dies noch für 40% der Befragten der Fall. Eine deutliche Entspannung der Situation brachte erst der Mai. Für Desinfektionsmittel und anderes Material wurde ein vergleichbarer Verlauf berichtet (Abb. 2).
Abbildung 2: Beurteilung der Verfügbarkeit von Schutzmasken, Desinfektionsmitteln und anderem Schutzmaterial in %.

282 Ärztinnen und Ärzte 
mit COVID-19-Infekt

282 und damit 2,3% der befragten Ärztinnen und Ärzte berichteten einen PCR-dokumentierten COVID-19-­Infekt, 15 davon ohne Symptome (Tab. 1). 26 der ­Erkrankten wurden hospitalisiert. 2,0% der Befragten berichteten, dass bei mindestens einem Haushaltsmitglied ein PCR-dokumentierter COVID-19-Infekt fest­gestellt wurde. 60% der Befragten kannten entweder einen Arzt oder eine Ärztin (47,5%) bzw. eine andere Gesundheitsfachperson (42,4%) persönlich, der oder die am Corona-Virus erkrankt ist.
Tabelle 1: Erkrankung an einem PCR-dokumentierten COVID-19-Infekt seit Ende Februar 2020 (n = 12 111).
 Anzahl PersonenAnteil
in %
Nicht getestet, 
keine Symptome879172,6%
Nicht getestet,
aber Symptome7195,9%
Negativ getestet231919,2%
Positiv getestet,
aber keine Symptome150,1%
Positiv getestet und Symptome2672,2%
Der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit COVID-19-Infektion unterschied sich nicht nach Versorgungssektor. Die beiden grössten Gruppen – ausschliesslich praxisambulant sowie ausschliesslich im Spital tätige Ärzte und Ärztinnen – weisen mit 2,4 und 2,3% einen vergleichbaren Anteil an COVID-19-Infektionen auf. In Hinblick auf das Geschlecht fällt auf, dass Männer unter den COVID-19-Fällen mit 59,9% (n = 169) leicht überrepräsentiert sind, obwohl sich die antwortenden Männer sogar etwas seltener (nämlich zu 20,3%) einem COVID-19-Test unterzogen hatten als ihre Kolleginnen (von diesen hatten 22,8% einen Test durchgeführt).
Für 259 der 282 Ärzte und Ärztinnen mit COVID-19 liegt eine Angabe zur Fachrichtung vor. Die Fachrichtung Allgemeine Innere Medizin stellt mit 105 Betroffenen 40,5% der COVID-19-Fälle, obwohl sie nur 30,1% der Befragten ausmacht. Der Anteil erkrankter Personen ist in dieser Fachdisziplin mit 3,1% entsprechend erhöht.

Deutlich mehr und deutlich weniger zu tun: ungleiche Arbeitsbelastung

Die Corona-Krise wirkte sich auf die Arbeitssituation der Ärzteschaft sehr unterschiedlich aus. Während im März 2020 knapp 13% der Ärztinnen und Ärzte «deutlich mehr zu tun» hatten, berichtete die Mehrheit der Befragten, «etwas weniger» (22%) oder sogar «deutlich weniger» (32%) zu tun zu haben. Im April verschärfte sich diese Situation weiter: Nur noch knapp 12% der Befragten erlebten die gleiche Arbeitsbelastung wie sonst. Fast die Hälfte der Ärztinnen und Ärzte (46%) hatte «deutlich weniger zu tun» als sonst, weitere 24% hatten «etwas weniger» zu tun. Hinzu kamen 5%, die aus Gründen wie Isolation/Quarantäne, Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, Betreuungspflichten oder Ähnlichem überhaupt nicht arbeiten konnten. Im Mai begann sich die Situation wieder etwas zu normalisieren, obwohl auch hier noch 9% «deutlich mehr zu tun» hatten, während gleichzeitig andere 9% «deutlich weniger zu tun» hatten als sonst (Abb. 3).
Abbildung 3: Wie hat sich Ihre Arbeitssituation durch die Corona-Krise verändert? Ich habe … (n = 11 538).

Zwei Drittel erwarten Einkommensverluste – fast die Hälfte sogar «deutliche»

Die geringere Beschäftigung schlägt sich auch in den Erwartungen über die persönlichen finanziellen Folgen nieder. Über zwei Drittel der Befragten erwarten Einkommensverluste, fast die Hälfte «deutliche» (43%) oder sogar «allenfalls existenzbedrohende» (4%) Einkommensverluste (Tabelle 2). Die Frage, ob sie während der Corona-Krise Kurzarbeitsentschädigung als Massnahme ergriffen hätten, bejahten 36,5% der Befragten; 1,6% hatten Entlassungen von ärztlichem oder nicht­ärzt­lichem Personal ausgesprochen.
Tabelle 2: Welche finanziellen Auswirkungen erwarten Sie durch die Corona-Krise für sich persönlich? (n = 11 521).
Ich erwarte …n%
 … einen sehr starken, allenfalls existenzbedrohenden Einkommensverlust4664,0%
 … einen deutlichen Einkommensverlust489242,5%
 … einen geringen Einkommensverlust276624,0%
 … keine Veränderung meiner Einkommenssituation324728,2%
 … einen geringen Einkommenszuwachs1261,1%
 … einen deutlichen Einkommenszuwachs240,2%

Trotz Problemen Zufriedenheit mit dem Krisenmanagement

Das Krisenmanagement ihrer jeweiligen Kantone be­urteilte eine sehr grosse Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte als «sehr gut» (35,4%) oder «eher gut» (51,2%). Nur wenige empfanden das Krisenmanagement als «eher schlecht» (10,6%) oder sogar «sehr schlecht» (2,8%). Das Krisenmanagement des Bundes wurde etwas weniger positiv, aber immer noch grossmehrheitlich als «sehr gut» (25,0%) oder «eher gut» (56,5%) bewertet. Als «eher schlecht» (15,2%) oder «sehr schlecht» (3,3%) bewertete es etwa jeder fünfte Befragte.

Fazit: Die Situation der Ärzteschaft in der Corona-Pandemie

Die Erfahrungen der Ärzteschaft in der Corona-Krise stellten sich zwischen März und Mai 2020 sehr unterschiedlich dar. Während gut ein Drittel der Befragten häufig oder sogar täglich mit (möglichen) Corona-­Infektionen konfrontiert war, sah etwa ein Viertel in diesem Zeitraum keinen solchen Patienten. Während einige rund um die Uhr arbeiteten, konnte über die Hälfte der Ärzteschaft ihrer Arbeit im März und April nur (sehr) eingeschränkt nachgehen und ist mit entsprechenden finanziellen Folgen konfrontiert.
Der in dieser Befragung dokumentierte verbreitete Mangel an Schutzmaterial zeigt auf, dass ein besserer Schutz der Ärzteschaft und anderer Gesundheitsfachpersonen vor Ansteckungen mit entsprechender Vorbereitung möglich gewesen wäre. Obwohl ein nennenswerter Teil der Ärztinnen und Ärzte gar nicht mit der fraglichen Patientengruppe in Kontakt war, ist die hier festgestellte Häufigkeit dokumentierter COVID-19-Infektionen von 2,3% deutlich höher als die innerhalb der Allgemeinbevölkerung. Letztere dürfte am 1. Juni 2020 etwa 0,36% betragen haben.1 Diese Häufigkeiten sind jedoch schwierig vergleichbar: Von den befragten Ärztinnen und Ärzten wurden 21,4% auf eine COVID-19-Infektion getestet, während die allgemeine Testhäufigkeit in der Schweiz Ende Mai bei 44 418 Tests auf eine Million Einwohner lag [5].
Trotz der Defizite in der Krisenvorbereitung zeigen die insgesamt positiven Bewertungen der Ärztinnen und Ärzte zum Krisenmanagement der Kantone und des Bundes Verständnis dafür, dass in der Pandemie-Situation nicht alles wie gewünscht funktionierte. Dass die Ärzteschaft in einer Pandemie mehrheitlich unterbeschäftigt statt überbeschäftigt sein würde, hätten wohl die wenigsten erwartet.