Späte Erkenntnis

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19074
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(38):1204

Affiliations
Dr. med., Mitglied der Redaktion

Publiziert am 15.09.2020

Die heftigen Debatten der letzten Monate im Hinblick auf Rassismus und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern haben mir als Mann und als Arzt zu denken gegeben – und vermutlich bin ich nicht der Einzige, der die eigene Haltung bislang für aufgeklärt hielt, sie nun aber auf den Prüfstand stellt.
Zum ersten Thema: Meine Familie und ich haben in Nord- und Südamerika, in Indien und in Afrika gelebt und dort dauerhafte Freundschaften geschlossen. Zurück in der Heimat lebte ich weiter sehr «interkulturell». Neun Jahre lang stand ich der Waadtländer Sektion der Liga gegen Rassismus und Antisemitismus vor, und ich engagierte mich in den Komitees von Entwicklungsorganisationen. Ich bin überzeugt: «Unterschiede sind stets interessant. Lassen wir uns also durch Vielfalt bereichern.»
Von unserem Aufenthalt in den USA habe ich die Inte-
gration von Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern in guter Erinnerung – im universitären Milieu. Aber die Proteste infolge der Ermordung von George Floyd in Minneapolis sowie die zahlreichen Zeugnisse von Menschen afrikanischer (und anderer) Abstammung in den USA, der Schweiz und in anderen Ländern haben mich dazu gebracht, meine Einschätzung zu hinterfragen. War ich etwa jahrzehntelang blind? Habe ich nicht begriffen, was unsere «anderen» Mitbürgerinnen und Mitbürger im Alltag empfinden, wenn sie mit Verhaltensweisen konfrontiert sind, die von unbeholfen bis inakzeptabel reichen: Reserviertheit, Unbehagen, Meiden, Ablehnung oder sogar beleidigende Gesten und Worte? Ich war zu schnell zu der Überzeugung gelangt, dass das Problem im Grunde gelöst sei und rassistische Reflexe sehr selten geworden seien. Der alltägliche, äusserst hartnäckige Rassismus, der uns nun wieder ins Bewusstsein gerufen wird, erschüttert mich. Auch wenn es hier keine Lynchmorde an jungen Schwarzen gibt – was ist mit den vielen stigmatisierenden Haltungen, die den Betroffenen das Gefühl geben, «nicht wie wir» zu sein?
Genauso, was die Beziehungen zwischen den Geschlechtern betrifft. Ich denke, ich war gegenüber Mitarbeiterinnen und Kolleginnen korrekt, höflich und hilfsbereit. Und ich war der Überzeugung, dass die diesbezügliche Situation in diesem Land einigermassen zufriedenstellend sei, obwohl mir – schon bevor die «me too»-Bewegung ein Schlaglicht auf diese Aspekte warf – klar war, dass viele Frauen unter sexuell konnotierten Sprüchen und Gesten zu leiden hatten, schliesslich hatte ich mich als Kantonsarzt damit auseinanderzusetzen. Der Frauenstreik am 14. Juni hat mir verdeutlicht, wie akut und schwerwiegend das Problem noch ist.
Wir müssen uns eingestehen, dass diese Vorstellungen von «Unter-» und «Überlegenheit» systemisch sind und hartnäckig fortbestehen. Sie kommen dem weis-
sen Mann zugute, der – unabhängig von persönlichen Eigenschaften – stets im Vorteil ist. Dies bleibt auch im Jahr 2020 ein ungeschriebenes, ehernes Gesetz.
Natürlich hat sich einiges verbessert. Aber werden diese tief verwurzelten Ungleichheiten jemals vollständig beseitigt sein? Neben einem klaren Rahmen durch Gesetze, Chartas und Erklärungen braucht es vor allem eine «Feinjustierung» unseres Verhaltens im Alltag, das vielleicht nicht unter der Rubrik «skandalös» laufen mag, aber eben doch mitunter weiterhin eine sexistische oder rassistische Dimension aufweist.
Manche mögen diese Anmerkungen als übertrieben ­betrachten, als «Selbstgeisselung à la Suisse», vielleicht sogar als Angriff auf die Meinungsfreiheit. Aber ich glaube an den Grundsatz: «Die Freiheit jedes und jeder Einzelnen zeigt sich an den Grenzen, die wir ihr setzen.»
Ein Wort noch zu den Aufrufen im Zuge von «Black Lives Matter», Statuen oder Gedenktafeln für Menschen abzureissen, die im Menschenhandel ein Vermögen gemacht haben (und sich später gegenüber ihrem Herkunftsort grosszügig zeigten). Wir brauchen nicht zu hoffen, mithilfe einfacher Grundsätze über jeden Fall angemessen richten zu können. Die Geschichte lässt sich nicht ausradieren, aber analysieren.
Wichtig ist, dass die Kinder in der Schule und die Gesellschaft als Ganze sachlich und ausgewogen informiert werden und dass Debatten über angebliche «Unterschiede» zwischen Individuen und Gruppen geführt werden: Warum sollten bestimmte Menschen weniger wert sein als andere? Was hält dieses Phänomen am Leben? Unsere Gesellschaft steht vor weiteren, offensichtlich noch grösseren Herausforderungen, bei denen ihr Fortbestehen auf dem Spiel steht. Dennoch stellen die von «dem System» (und unserem mangelnden Bewusstsein) verursachten Ungleichheiten und Angriffe auf die Würde eine immense Herausforderung dar.
jean.martin[at]saez.ch