«Informed consent»

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/3334
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19096
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(3334):1004

Affiliations
Prof. Dr. theol., Mitglied der Redaktion Ethik

Publiziert am 12.08.2020

Noch nie habe ich diese Kolumne so ins Nichts hineingeschrieben wie jetzt. Soll ich über Corona schreiben oder nicht? Meine Zeilen sind in ein paar Wochen unweigerlich entweder total irrelevant, wenn ich es nicht tue und Corona neue Schlagzeilen macht. Oder sie sind kalter Kaffee, wenn ich es tue, aber Corona entweder Geschichte ist oder wir uns einfach daran gewöhnt haben.
So wie wir uns an vieles gewöhnt haben. Sich nicht mehr umarmen zur Begrüssung, ja, nicht einmal mehr sich die Hand geben. Abstand halten zu den Gross­eltern, Maske tragen, wenn es eng wird. Erschrecken, wenn im Fernsehen voll besetzte Restaurants gezeigt werden und bevölkerte Plätze, selbst wenn es nur im Film ist. Sich an Regeln halten, die meisten von uns ­jedenfalls. Weil wir die Intensivstationen nicht überfordern wollen, weil wir die Älteren schützen und die Menschen aus Risikogruppen, weil wir die R-Zahl unter eins kriegen sollen und weil es der Bundesrat sagt. «Man muss ja», sagt mir die jüngere Frau in der Bahn, bevor sie ihre Maske hochzieht.
Man muss – mit dem freiwilligen informed consent, sonst eine der Säulen medizinethischer Argumentation, ist es nicht mehr so weit her. Das heisst, informiert sind wir schon. Zwar sind die Tage vorbei, an denen wir vor lauter Corona-Schlagzeilen nichts anderes mehr von der Welt mitgekriegt haben. Und auch in den Talkshows dürfen es wieder andere Gäste sein und ­andere Themen. Selbst der NDR-Podcast mit Christian Drosten hat Sommerpause. Aber bis dahin haben wir mehr erfahren über das Coronavirus und seine Auswirkungen, als wir je wissen wollten, und ich «Wörter lerne, die ich gar nicht kannte, wie Polymerase-Kettenreaktion» (so der Hamburger Klavierkabarettist Bodo Wartke in seinem genialen Song über den Virologen der Berliner Charité, «der alles so erklärt, dass ich es auch versteh»).
Informiert sind wir – aber informiert glauben sich auch die sogenannten Corona-Rebellen, die gegen das Müssen demonstrieren, gegen den Lockdown und gegen die Masken. Und wohl auch gegen das Virus, auch wenn dieses nicht sehr beeindruckt scheint. Sie halten ihre Autonomie hoch, sie geben sich sogar besser informiert als wir anderen und verweigern lautstark ihre Zustimmung. Aber es gibt auch andere, die sich Gedanken darüber machen, wie viel Müssen es erträgt. Ältere Menschen, welche die körperliche Nähe ihrer Kinder und Enkel vermissen und die sich fragen, wie viel mehr Lebensjahre dies aufwiegen soll. Restaurant­besitzer und Inhaberinnen kleiner und mittlerer Unternehmen, die sich in schlaflosen Nächten um ihre ­Existenz sorgen. Eltern, Lehrerinnen, Spitalpersonal, die unter mehr als herausfordernden Umständen alles gegeben haben – und manchmal war es doch nicht genug. Wofür das alles? Wozu habe ich da zugestimmt? Habe ich das überhaupt?
Und nachdem es schien, dass es sich trotz allem gelohnt habe, dass wir hier in der Schweiz das Schlimmste abgewendet hätten, schleicht sich das Virus von hinten an und treibt die Zahlen wieder in die Höhe. Und dann vielleicht nochmals. Und nochmals. Wir müssen.
Auf worldometers.info sind die Zahlen weltweit verfügbar, jeden Abend aktualisiert. Und wir sehen, was dort passiert, wo sich die Präsidenten, die Gläubigen und die jungen Wilden nicht an das Müssen halten. Weil sie glauben, sie seien besser informiert. Meine ­Information, mein consent. Oder eben nicht. Freiheit für die eine­n, Konsequenzen für die anderen. Oder vielleicht hat es manchmal – ein bisschen Schadenfreude dringt durch – doch auch Konsequenzen für die vermeintlich Freien.
Informed consent ist eben kein individualistisches Konzept. Es geht dabei nicht nur um mich. Bei einer Corona-Pandemie wird das offensichtlich. Auf die Notwendigkeit zur Solidarität wurde denn auch öfters hingewiesen, nicht nur von bundesrätlicher Seite aus, sondern auch von Grossdetaillisten, regionalen Anbietern und Menschen aus der Künstlerszene. Zu Recht!
Grund genug, um über Corona hinaus darüber nachzudenken, wie informedconsent und Verantwortung zusammenhängen. Ich entscheide ganz selten nur für mich. Was ich tue und lasse, sei es Maskentragen oder Organspendeausweis, Patientenverfügung oder Pränataldiagnostik – es ist nicht nur mein Leben, sondern betrifft letztlich die gesamte Gesellschaft. Ich bestimme mit meinem Verhalten mit, was bei uns möglich ist, was finanziert wird und was unter welchen Vorzeichen ­öffentlich diskutiert wird. Ich präge mit meiner Zustimmung und meiner Verweigerung den Geist unserer ­Gesellschaft mit.
Wo ist nochmal meine Maske?
christina.ausderau[at]saez.ch