Insel ohne Corona?

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19117
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(36):1098

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Redaktorin Print Online

Publiziert am 01.09.2020

Vor wenigen Monaten, als die Pandemie auf dem Höhepunkt war, hatte ich meine alljährliche «Pilgerreise» auf die Insel Elba im toskanischen Archipel bereits abgeschrieben. Doch trotz über 35 000 Corona-Toten [1] hat Italien seine Grenzen am 15. Juni wieder unilateral geöffnet, um Wirtschaft und Tourismus möglichst rasch anzukurbeln. Nach sorgfältigem Abwägen von Für und Wider entschied ich schliesslich, mit 50 Schutzmasken und Desinfektionsmittel im Gepäck nach Elba zu reisen, um dort nach unserem Ferienhaus zu schauen. Ich dachte, ich müsse an der Grenze einen Gesundheitscheck machen und würde vor Ort von den italienischen Behörden nachverfolgt. Aber nichts von alledem.
Die Insel Elba sei praktisch COVID-19-frei, hiess es. Nach offiziellen Angaben hat die Insel insgesamt nur 12 Infektionsfälle verzeichnet, darunter den Todesfall eine­r Person aus der Risikogruppe. In der SRF-Sendung PULS vom 22. Juni [2] erklärte der Direktor des Inselspitals, dass kein neuer Corona-Fall bekannt sei.
Wieso sollte man also in Anbetracht dieser «vorbild­lichen» Bilanz die in- und ausländischen Touristen nicht mit offenen Armen empfangen? Die Insel Elba lebt hauptsächlich vom Tourismus. Daher wird auf dem Reiseportal siviaggia.it die Insel als «ideales Ferienziel im Sommer 2020» («Isola d’Elba, la meta perfetta per l’estate 2020») verkauft. Um die Reisenden anzulocken, wird mit der Schönheit der Insel, aber auch mit ihrer Sicherheit geworben. Dank der zahlreichen Strände und weitläufigen Pfade seien die Touristen sicher, auch bei «maximalem Touristenansturm» nicht zusammengepfercht zu sein, versichert siviaggia.it. Die Insel zählt übers Jahr 30 000 Einwohnerinnen und Einwohner, wobei sich die Zahl im August verfünffacht. Das bedeutet, dass sich in der Hochsaison 150 000 Menschen 224 km² Land und 147 km Küste teilen. Dann gibt es nicht mehr viel Platz.
Es ist Anfang Juli 2020, und fast alles scheint wie in den Jahren davor. Zwar ist die Maske allgegenwärtig. In den Geschäften, Restaurants und Bars ist das Tragen dieses so wertvollen Stoffstücks Pflicht. Der Mund-Nasen-Schutz ist fast schon zum modischen Accessoire avanciert: Da man immer eine Maske dabei haben muss, tragen viele Italiener diese am Handgelenk oder Arm, wenn sie sie nicht aufsetzen müssen. Aber diese scheinbare Lockerheit vermag nicht über den Corona-Schatten hinwegzutäuschen, der über Italien schwebt. Die Unbeschwertheit steht in starkem Kontrast zur Strenge, mit der die Regeln eingehalten werden. Wer sich im Restaurant ohne Schutzmaske auf die Toilette wagt, fällt auf. Zum Zeitpunkt der Textverfassung Ende Juli sind die Infektions- und Todesfallzahlen im Land einigermassen stabil, aber der Sommertourismus könnte das ändern.
Eins gibt mir während meines kurzen Aufenthaltes zu denken: Es ist mehr los als üblicherweise zu dieser Jahreszeit. Der kleine Strand unterhalb meines Ferien­hauses ist völlig belagert: Nach den langen Monaten des Lockdowns sehnen sich die Menschen in Italien verständlicherweise nach Sonne und Meer. Ein Hoteldirektor bestätigt meinen Eindruck, dass sich derzeit viele Menschen auf der Insel aufhalten: «Adesso c̕e molta gente sull’isola.» Das Phänomen dürfte sich im August noch verstärken, wenn traditionell alle in Italien ans Meer fahren. Eher beunruhigend angesichts von Inselbehörden, die einen erneuten Anstieg der Corona-Fallzahlen wenig ernst zu nehmen scheinen. Laut einer Reportage von SRF [2] sind auf der Insel nicht ausreichend Tests vorhanden. Ausserdem gibt es nicht genügend Möglichkeiten, die Touristen nachzuverfolgen. Man beschränkt sich auf wenig zuverlässige serologische Tests. Was geschieht, wenn eine Person verdächtige Symptome zeigt? «Dann fordern wir die Person auf, umgehend abzureisen und sich daheim behandeln zu lassen», erklärt der Spitaldirektor. Und wie wird sicher­gestellt, dass die Person sich auf der Rückreise an die Hygieneregeln hält? Darauf werde schon jemand achten, vielleicht die Familie, beschwichtigt der Präsident des Hotellerieverbands der Insel.
Ich selbst bin gesund geblieben und auf der Insel keine unnötigen Risiken eingegangen. Das beweist die Temperaturmessung, der ich mich vor Betreten der Fähre unterziehen muss: «Sechsunddreissig Komma fünf», ruft der Mann, der mir das Thermometer an die Stirn hält. In diesem Moment frage ich mich, warum diese Massnahme nur bei der Rückfahrt erfolgt.
Bleibt nur zu hoffen, dass der fieberhafte Versuch, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, nicht auf Kosten der allgemeinen Gesundheit geht. COVID-19 hat in Italien tiefe Wunden hinterlassen. Und doch ist in diesem Sommer die Gefahr einer zweiten Welle realer denn je – auch in der Schweiz. Eine zweite Welle würde eine Wunde öffnen, die noch längst nicht verheilt ist …