Erster ETH-Bachelor in Humanmedizin

Pioniergeist am Hönggerberg

Tribüne
Ausgabe
2020/35
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19129
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(35):1045-1046

Affiliations
Texterin

Publiziert am 25.08.2020

Erstmals haben diesen Juni an der ETH Studierende ihren Bachelor in Humanmedizin abgeschlossen. Unter ihnen Yi Zheng, der die technisch-naturwissenschaft­lichen Grundlagen des neuen Studiengangs ebenso schätzte wie seine Aufgabe als «Testpilot». Ein Interview über drei intensive Jahre für Wissensdurstige mit Ent­deckerqualitäten.
Bleibt Zürich auch fürs Masterstudium erhalten: Yi Zheng, frisch gebackener ETH-Bachelor der Humanmedizin.
Herzliche Gratulation zum Bachelor in Humanmedizin. Was hat Sie in diesen drei ersten Studienjahren an der ETH Zürich besonders geprägt?
Die Tatsache, etwas komplett Neues zu beginnen – dass man sich also völlig ins Ungewisse stürzt. Das hat mich und viele Mitstudierende sicherlich geprägt, auch menschlich. Wohl aus diesem Grund und wegen des kleinen Jahrgangs mit 100 Studierenden hatten wir auch einen starken Zusammenhalt, den ich äus­serst geschätzt habe. Fachlich faszinierte mich die grosse Vielfalt. Wir haben viel Einblick in medizi­nische, aber auch technische und naturwissenschaft­liche Fächer und Bereiche erhalten. Auch durften wir unterschiedliche Denkweisen kennenlernen: Wenn in der Anatomie teilweise Details zählen, legt die Klinik manchmal eher Wert auf den Gesamtzusammenhang, und in den Ingenieurwissenschaften ist besonders Verstehen und Herleiten gefragt. Das war sehr bereichernd!
Sie waren also gerne Versuchskaninchen?
An der ETH nennt man dies lieber «Testpilot» – und dies trifft die Sache nicht schlecht, denn unser Feedback war von Anfang an gefragt. Es gab sowohl standardisierte Umfragen als auch viele informelle Rückmeldungen. Die Studierenden scheuten sich auch nicht, von sich aus auf die Dozentinnen und Dozenten zuzugehen, Bedürfnisse anzusprechen oder Ideen einzubringen. Man hörte uns zu und packte Änderungen rasch an. Beispielsweise die Anpassung von Kursen punkto Lernziele oder Umfang oder die Verschiebung der Pharmakologie vom ersten ins wenigstens zweite Semester.
Welche Qualitäten kamen Ihnen als «ETH-Testpilot» sonst noch zupass?
Offenheit war hilfreich, und viel Flexibilität! (lacht) Als erster Jahrgang eines neuen Studienganges kamen wir wohl häufiger aus der Komfortzone heraus als andere Studienbeginnende. Wer gerne langfristig plant, hatte sicher eher Mühe, denn manchmal wurden Veranstaltungen recht kurzfristig angekündigt. Mit einer gewissen Unsicherheit musste man also umgehen können. Man lernte, das Unbekannte als etwas Spannendes zu betrachten und das Beste daraus zu machen – sich ­dafür einzusetzen, mitzureden. Diese Mentalität habe ich schätzen gelernt.
Wie würden Sie künftigen Medizinstudierenden die ETH als Studienort schmackhaft machen?
Wer erfahren will, wo überall die Medizin hinführen kann, ist an der ETH richtig. Man sieht, wie Ärztinnen und Ärzte arbeiten, erhält Einblick in die Wissenschaft und merkt, dass durchaus auch das Ingenieurwesen mit Medizin zu tun haben kann. So eröffnen sich berufliche Möglichkeiten, an die man bei Studienbeginn vielleicht nie gedacht hätte, neben der Medizin die Forschung, die Industrie, der Wissenschaftsjournalismus … Während das klassische Medizinstudium einen sehr klaren Fokus hat, bietet die ETH Medizinstudierenden viel fachlichen Überblick und neue Perspektiven.
Hatten Sie Erwartungen an Ihr Bachelorstudium, die nicht eingelöst wurden?
Die praktische Orientierung des Studienganges war für mich ein wichtiger Grund, an der ETH zu studieren. Es stellte sich heraus, dass Studierende und Studien­koordination «Praxis» wohl etwas unterschiedlich ­definieren. Sicher haben wir nicht nur sogenannt trockene Theorie gebüffelt – wir hatten ja von Anfang an klinische Vorlesungen, und die Medizintechnik bot ebenfalls Praxis, etwa in Robotik, Prothetik oder 3D-Druck. Insofern wurde diese Praxiserwartung teilweise eingelöst. Doch meines Erachtens hatten wir sehr wenig Patientenkontakt, abgesehen von einer Woche im Kantonsspital Aarau und einigen Pa­tienten in Vorlesungen. Zugegeben, im sechsten Semester wurden zwei Spitalpraktika wegen Corona ­abgesagt. Doch im Vergleich mit anderen Medizinstudiengängen, die etliche Spital- und teilweise auch Hausarztpraktika bieten, hat mir in den ersten zweieinhalb Jahren des Studiums der Patientenkontakt gefehlt. Hier profitierte der zweite Jahrgang definitiv vom Feedback des ersten und konnte schon im ersten Semester Patientinnen und Patienten unter pflegerischen Gesichtspunkten begleiten.
Was waren weitere wesentliche Unterschiede zwischen Ihrem Bachelorstudium und jenen an anderen Universitäten?
In organisatorischer Hinsicht, dass die Prüfungen jeweils nicht bereits im Juni, sondern nach einem lern­intensiven Sommer im August stattfinden. Was die ­Inhalte betrifft: Neben den ungewöhnlich vielen naturwissenschaftlichen Fächern strukturiert der ETH-Studiengang auch die medizinischen Gebiete anders und kompakter. Das führt tendenziell zu mehr Druck, weil man sich mehr Stoff in kürzerer Zeit aneignen muss. So lernten wir die Organe in Blöcken kennen, die stets Anatomie, Physiologie und Klinik umfassten. Das war einerseits manchmal überfordernd, andererseits aber auch sehr motivierend: Wir konnten rasch sehen, welche Elemente aus Anatomie und Physio­logie klinisch relevant sind – und damit für die Pa­tienten. Wichtig war also das «Big Picture» und weniger, jede noch so winzige Arterienverzweigung zu kennen.
Sie haben es oft gehört: «ETH-Bachelors in Humanmedizin gehen doch alle in die Forschung.» Stimmt das?
Für eine Prognose ist es noch zu früh. Meines Wissens interessieren sich vereinzelte Mitstudierende für die Forschung, doch die meisten von uns wollen Ärz­tinnen und Ärzte werden. Da unterscheiden wir uns wenig von den Medizin-Bachelors der anderen Universi­täten.
Und wohin zieht es Sie für Ihr Masterstudium?
Nirgendwohin – obwohl das Curriculum in Zürich wahrscheinlich weniger gut auf den ETH-Bachelor abstimmt ist als andernorts. Im Tessin beispielsweise ist der Medizin-Master ja brandneu und quasi für ETH-Bachelors designt. In Zürich wird es für mich also einerseits gewisse Repetitionen geben und andererseits Lücke­n, die ich selber füllen muss. Dafür bietet diese Stadt viele Möglichkeiten, es gibt grosse Firmen und eine Menge Start-ups. Auch ein Grossteil meines sozialen Umfeldes ist hier. Zudem: Eine Masterarbeit an der ETH tönt schon verlockend. Und selbst als Berner muss ich zugeben, dass Zürich eine schöne Stadt ist – alles gute Gründe, um hier zu bleiben!
fabienne.hohl[at]wirktext.ch