Ungewissheiten und Vertrauen – eine Frage der Praxis

Zu guter Letzt
Ausgabe
2020/40
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19138
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(40):1292

Affiliations
Dr. rer. soc., Dozentin an verschiedenen FH

Publiziert am 29.09.2020

Das Verhältnis zwischen der Medizin als Wissenschaft und der Praxis ärztlichen Handelns scheint simpel: an der Uni studieren, dann anwenden. Die Realität ist aber kniffliger und bedarf einer systematischen Klärung, um Missverständnisse zu vermeiden, die in der Gesundheitspolitik immer wieder auftauchen, nicht zuletzt auch in polarisierenden Corona-Debatten, etwa um die – vor allem deutsche – Frage: Welcher Virologe hat recht? Oder um die beiden – eher schweize­rischen – Fragen: Nützt Maskentragen und ist Enkelkinderumarmen erlaubt?
Die Vehemenz, mit der Unsicherheiten oft zurückgewiesen und komplett sichere Anweisungen erwartet werden, verweist auf ein unrealistisches Bild von Wissenschaft als Sammlung von Fakten, die ebenso aktuell wie widerspruchsfrei sein sollen, obwohl erst Un­sicherheiten den Erkenntnisfortschritt ermöglichen. Vielleicht sind es Desillusionierungen bezüglich erhoffter Lösungsansätze, die den Glauben an Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit erst recht befeuern. Wo es eigentlich gilt, abzuwägen, Wahrscheinlichkeiten anstelle von Gewissheiten zu setzen, wird dies immer wieder als Mangel empfunden und dargestellt. Allerdings transformiert sich an exakt dieser Stelle abstrakte Wissenschaft zu ärztlicher Profession – und dies ist kein Mangel, sondern eine Chance.
Soziologische Professionalisierungstheorie beschäftigt sich mit der Frage, wie Wissenschaft in klientenbezogenen Berufen zur Anwendung kommt: Ärztinnen können und sollen ihre Expertise, anders als in technischen Berufen, nie nur standardisiert anwenden. Immer geht es um konkrete Menschen mit einer Vorgeschichte, einem eigenen Willen, einem spezifischen Umgang mit Gesundheit und Krankheit, einem Milieu, in dem sie leben. Ein erfahrener Arzt erfasst diese Komplexität und lässt sie in Diagnose und Therapie einfliessen – so, dass die Patientin vertrauen kann, dass er dasjenige vorschlägt, was für sie – vermutlich – am geeignetsten ist. Dieses Vorgehen, das nicht vor­schnel­l subsumiert, sondern sorgfältig evaluiert, was in welchem Fall sinnvoll ist, erfordert in der Berufsausübung ein gewisses Mass an Autonomie ­anstelle einschränkender Vorgaben. Dass dies notwendig ist, damit das Gesundheitswesen angemessen funk­tionieren kann, wird bei gesundheitspolitischen Entscheiden oft übersehen, konkret dann, wenn vorwiegend entweder Marktmechanismen oder bürokratische Kontrolle ärztliches Handeln bestimmen soll. Beide Arten der «Steuerung» werden der inneren Logik der Tätigkeit nicht gerecht, denn sie suggerieren, je auf ihre Weise, Messbarkeit von nicht Messbarem, sei es durch restriktive Vorgaben, technokratische Evaluation oder durch Reduktion komplexer Vorgänge auf ein marktkonformes Produkt.
Ärztliche Autonomie lebt also immer von mehrdeu­tigen Fakten. Erst durch deren Interpretation im Einzelfall erhalten sie ihren Sinn. Nicht von ungefähr hat «Praxis» eine doppelte Bedeutung: als Kontrast zu «Theorie» und als realer Ort der Berufsausübung, bei Bagatellen ebenso wie bei existentiellen Dramen. Das bedeutet auch, dass bei der einen Patientin eine andere Therapie zum Zug kommt als beim anderen Patienten mit ähnlicher Diagnose: im einen Fall Physiotherapie, im andern Cortison und im dritten eine Operation oder gar das wissenschaftlich umstrittene homöopathische Kügelchen. Placebo ist in jedem Fall inbegriffen, mal mehr, mal weniger.
Innerhalb der Soziologie wird der hier dargestellten Spielart der Professionalisierungstheorie oft vorgewor­fen, sie liefere die Ideologie, damit Ärzte nach eigenem Gutdünken schalten und walten könnten. Das mag vorkommen, jedoch halte ich die gegenläufige Entwick­lung für mindestens so problematisch, wenn nämlich umgekehrt nicht nur von gesundheitspoli­tischer, sondern auch von ärztlicher Seite Forderungen nach mehr standardisierten Leitlinien laut werden, etwa wenn es darum geht, wie im Zuge von Rationierungen medi­zinischer Leistungen zu entscheiden sei – kürzlich im Zusammenhang mit der Diskussion um die Altersgrenze für intensivmedizinische Behandlung von Corona-Patienten. Eine Patientin kann immer nur einem Menschen vertrauen, nicht einer Checkliste. Und Vertrauen ist im Zusammenhang mit Krankheit und Gesundheit zentral, egal ob es um Genesung geht oder um ein würdiges Lebensende.
marianne.rychner[at]sozioanalyse.ch