Forschung und COVID-19

Verbesserungspotenzial des Generalkonsents

Tribüne
Ausgabe
2020/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19143
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(38):1197-1200

Affiliations
a Doktoratsassistentin am Institut für Gesundheitsrecht (IDS) der Universität Neuchâtel; b Prof. Dr., Rechtsanwältin, Assistenzprofessorin Tenure Track für Staats- und Verwaltungsrecht, Direktorin des Zentrums für Gesundheitsrecht und Management im Gesundheitswesen, Universität Bern

Publiziert am 15.09.2020

COVID-19 erfordert grosse Forschungsanstrengungen. Ein broad consent ermöglicht die flexible Nutzung von Daten und Proben zu Forschungszwecken unter Wahrung der Autonomie der Betroffenen. Das aktuell an vielen Schweizer Spitälern gebräuchliche Generalkonsent-Modell wirft aus rechtlicher Sicht Probleme auf. Dieser Beitrag zeigt seine Schwächen und Verbesserungspotenziale auf.

Forschung während der Pandemie

Derzeit werden in Gesundheitseinrichtungen eine beträchtliche Anzahl biologischer Proben und gesundheitsbezogener Daten von Patienten, die positiv auf COVID-19 getestet wurden, gesammelt. Diese Ressourcen sind wichtige Instrumente für die biomedizinische Forschung zu dieser bisher unbekannten Pathologie, die von der WHO als öffentlicher Gesundheitsnotstand von internationaler Bedeutung anerkannt wurde. Im Mittelpunkt der aktuellen Forschungsbemühungen stehen das Verständnis der Mechanismen der Übertragung dieser Krankheit, ihre Diagnose und Behandlung sowie Präventionsmassnahmen [1].
Der Generalkonsent weist rechtliche Schwächen auf, wird aber dennoch Betroffenen zur Unterschrift vorgelegt.
In diesem Kontext erhalten die Forschungs-Ethikkommissionen derzeit zahlreiche Anträge zur Weiterverwendung von Daten und Proben im Zusammenhang mit COVID-19 zu Forschungszwecken. Viele der eingereichten Projekte ersuchen um eine Genehmigung zur Nutzung der Daten und Proben ohne die Zustimmung der Betroffenen. Diese Gesuche stützen sich auf Art. 34 des Bundesgesetzes vom 30. September 2011 über die Forschung am Menschen (HFG, SR 810.30).
Der Wortlaut des Gesetzes ist jedoch eindeutig: Es wird ausdrücklich festgehalten, dass Art. 34 HFG nur «ausnahmsweise» in begrenzten Situationen anwendbar ist. Die Bedingungen sind von Fall zu Fall und unter ­Berücksichtigung des konkreten Projekts und der Si­tuation der betroffenen Person zu analysieren [2]. ­COVID-19 rechtfertigt keinen generellen Verzicht auf das Erfordernis der Zustimmung, wie von swissethics in Erinnerung gerufen wird [3]. Es bestehen keine besonderen Schwierigkeiten, die Zustimmung von positiv auf COVID-19 getesteten Personen einzuholen, und die Pandemie bedeutet nicht automatisch, dass die Wissenschaft Vorrang vor den Rechten des Einzelnen hat. Ebenso erinnert das Europäische Netzwerk der Ethikkommissionen für die Forschung (EUREC) in diesem Zusammenhang an die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung der Regel der freien, ausdrücklichen und informierten Zustimmung und die Respektierung der rechtlichen Anforderungen an die Forschung, selbst unter den besonderen Umständen von COVID-19 [4].
Im Kontext von COVID-19, dessen unbekannte Natur ein breites Forschungsspektrum erfordert, ist der Generalkonsent (GK) das geeignete Instrument. Der Vorteil eines GK besteht darin, dass er den Forschenden viel Spielraum lässt und gleichzeitig die Autonomie und die Rechte der Betroffenen schützt. Dies setzt vo­raus, dass der GK in Übereinstimmung mit dem Recht formuliert und mit angemessenen Sicherheitsvorkehrungen angewendet wird [5]. Ist dies der Fall, trägt er dazu bei, die Interessen von Betroffenen und Forschenden in Einklang zu bringen [6].

Generalkonsent in der Schweiz

In der Schweiz wurde 2016 von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) eine Initiative zur Entwicklung eines national harmonisierten GK lanciert. Die erste Version (GK-1/2017) wurde im Frühjahr 2017 in die Vernehmlassung geschickt, wo sie auf grosses Interesse stiess [7]. Ein von der swiss biobanking platform (SBP) im Auftrag der SAMW erstellter und im März 2018 veröffentlichter Evaluationsbericht [8] kam zum Schluss, dass der GK-1/2017 jedoch von keinem Universitätsspital in der Schweiz verwendet wurde und grosse Vorbehalte bezüglich seiner Rechtmässigkeit bestehen.
Im Herbst 2018 wurde eine neue, von einer Arbeitsgruppe der fünf universitären Lehrspitäler entwickelte, GK-Version von unimedsuisse und swissethics genehmigt [9]. Ein für Januar 2019 geplantes Treffen zur Einarbeitung der Schlussfolgerungen des Berichts der SBP wurde durch die SAMW abgesagt. Da die geplante Diskussion zwischen allen Interessengruppen zur Klärung der Divergenzen nicht durchgeführt werden konnte, ist klar, dass kein Konsens erreicht wurde und die Probleme weiterbestehen.
Trotz seiner Schwächen wurde der GK der fünf Lehrspitäler im Februar 2019 von swissethics unterstützt, wenn auch mit einer wichtigen Klarstellung: Jede Institution, die einen GK einführen will, muss über ein Governance-System für die Forschung verfügen, das anerkannten Standards entspricht [10].
Der GK-2018 ist aus rechtlicher Sicht problematisch und dieser Beitrag soll seine Schwächen und sein Verbesserungspotenzial aufzeigen.
Das GK-Formular definiert den Kreis der Empfänger nicht eindeutig, obwohl die rechtlichen Anforderungen je nach Urteilsvermögen der Teilnehmenden differenzieren (Art. 16 und 21 ff. HFG). Insbesondere sollte nicht urteilsfähigen Personen die Möglichkeit gegeben werden, die anfängliche Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter zu bestätigen oder zu verweigern, wenn sie ihre Urteilsfähigkeit wieder erlangen oder erwerben [11].
Die Gültigkeitsdauer der Zustimmung ist ebenfalls eine Schwäche, die angesprochen werden muss. Der GK-2018 sieht eine unbegrenzte Gültigkeit vor. Den Betroffenen muss jedoch die Möglichkeit gegeben werden, ihre ursprüngliche Entscheidung zu überdenken, z.B. durch eine regelmässige Erinnerung daran, dass sie ihre allgemeine Zustimmung gegeben haben.
Eine weitere Inkonsistenz besteht im Anwendungs­bereich. Die analysierte Einverständniserklärung beschränkt sich auf die Frage der Zustimmung zur Nutzung zu Forschungszwecken. Es unterliegen jedoch alle Formen der Verarbeitung von Proben und Daten der Zustimmung der betroffenen Person. Ein GK muss demnach die Speicherung, Bereitstellung und Übermittlung von Proben und Daten (Art. 13 DSG, Art. 16 und 32–33 HFG) abdecken, was der analysierte GK-2018 jedoch unterlässt.
Die Vorlage weist auch darauf hin, dass Proben und ­Daten für Forschungszwecke in kodierter oder anonymisierter Form zur Verfügung gestellt werden. Angesichts des technischen Fortschritts kann eine absolute Anonymisierung jedoch nicht mehr gewährleistet werden [12]. Darüber hinaus impliziert die Anonymisierung einen Rechtsverlust, der einer Verletzung der Persönlichkeit der Betroffenen bedeutet [13]. Der Patient, dessen Proben und Daten anonymisiert werden, kann weder seine Einwilligung zurückziehen noch sein Recht auf Zugang zu den Daten ausüben, die Nutzung seiner Ressourcen überwachen und mögliche Forschungsergebnisse, die für seine Gesundheit von Bedeutung sind, erhalten, wenn er dies wünscht. Diese Informationen fehlen im GK-2018.
Im Hinblick auf die Rückmeldung individueller Befunde statuiert der GK-2018 das Prinzip der obligatorischen Information der Betroffenen. Nach dem Gesetz über die Forschung am Menschen haben die Teilnehmenden jedoch nicht nur das Recht, diese Ergebnisse zu ­erfahren, sondern auch ein Recht auf Nichtwissen (Art. 8 Abs. 2 HFG) [14]. Im Falle des GK-2018 muss die Person, die nicht über einzelne Ergebnisse informiert werden will, eine Wahl treffen: Entweder stellt sie ihre Proben und Daten der Forschung zur Verfügung oder sie übt ihr Recht auf Nichtwissen aus und verweigert den GK als Ganzes. Die Optionen sind nicht kombinierbar. Der GK-2018 schränkt damit die Autonomie der Betroffenen ein, indem er ihre Entscheidung beeinflusst.
Angesichts der Vielzahl möglicher Forschungsoptionen können den Teilnehmenden zum Zeitpunkt der Einholung der Zustimmung keine umfassenden Informationen angeboten werden. Folglich müssen während der gesamten Laufzeit des GK zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen ergriffen werden, um die Rechte der Teilnehmenden zu schützen. Es genügt nicht, sie zu implementieren, es muss auch im GK über sie informiert werden. Zu diesen zusätzlichen Massnahmen, die im GK-2018 fehlen, gehören Aufbewahrungsverfahren, Governance-Regeln der Institutionen, die die Proben und Daten beherbergen sowie Bestimmungen über die Folgen eines Widerrufs der Zustimmung.

Jüngste Entwicklungen

Seit der Veröffentlichung des GK-2018 wurde er von einigen Spitälern wie dem Universitätsspital Basel, dem Inselspital Bern und den Hôpitaux Universitaires de ­Genève (HUG) in der vorliegenden Form übernommen. Um die oben genannten Schwächen zu beheben, ver­öffentlichte unimedsuisse im Januar 2020 Empfeh­lungen für die Umsetzung des GK-2018 [15]. Dieses ­Dokument, das nur in englischer Sprache vorliegt, spezifiziert insbesondere die Anwendungsbedingungen für die verschiedenen Gruppen von Urteilsunfähigen und die Notwendigkeit einer angemessenen Governance in den Institutionen. Die anderen in diesem ­Artikel erörterten Schwächen bleiben jedoch unbeantwortet. Auch ersetzen die an die Institutionen ge­richteten Empfehlungen nicht die unvollständigen Informationen, die den Teilnehmern abgegeben wird. Dennoch zeigt die Ausarbeitung dieses Dokuments, dass sich unimed­suisse der Ungenauigkeit des GK-2018 und folglich seines Verbesserungspotenzials bewusst ist.
Im Mai 2020 veröffentlichte das Centre hospitalier ­universitaire vaudois (CHUV) eine neue Version des GK [16]. Das CHUV-Modell ist von besonderem Interesse, da es eine Reihe von Verbesserungen gegenüber dem GK-2018 von unimedsuisse aufweist. Erstens richtet sich der neue GK des CHUV nur an urteilsfähige Personen. Zweitens beziehen sich die Informationen ausdrücklich auch auf die Speicherung, Bereitstellung und Übertragung, und nicht nur auf die Verwendung von Proben und Daten zu Forschungszwecken. Schliesslich präzisiert das Formular die Folgen der Anonymisierung (unbeschadet des Verlusts des Rechts auf Zugang zu den Daten). Aus Sicht der Governance verweist der CHUV-GK auch ausdrücklich auf die Folgen des ­Widerrufs der Zustimmung, d.h. die Vernichtung der Daten und Proben. Es ist jedoch bedauerlich, dass in der Informationsbroschüre zwar die Nutzungsbedingungen im Vordergrund stehen, die Lagerungsbedingungen aber nur teilweise beschrieben werden und zusätzliche Unter­lagen über den Betrieb von Biobanken fehlen. Weitere Informationen sind jedoch auf der CHUV-Website verfügbar, insbesondere über die Biobanque Génomique (BGC). Schliesslich bietet das CHUV-Formular derzeit keine zufriedenstellende Lösung für das Problem der Rückmeldung von Einzelergebnissen, selbst wenn den Betroffenen eine Verzichtserklärung angeboten wird, die das Recht auf Nichtwissen respektiert.

Fortschritte als Ausgangspunkt für eine neue Diskussion

Die freiwillige und informierte Zustimmung der Teilnehmenden ist für die Forschung auch in einer so aus­sergewöhnlichen Situation wie der Corona-Pandemie unabdingbar. Das GK-Modell von unimedsuisse und swissethics weist aus rechtlicher Sicht Schwächen auf und respektiert die Rechte der Beteiligten nur teilweise. Mit den Empfehlungen von unimedsuisse wurde jedoch im Jahr 2020 der Versuch unternommen, unklare Aspekte zu klären, was den Willen zur Verbesserung zeigt. Darüber hinaus zeigt der Fall des CHUV, dass es möglich ist, mehr rechtliche und ethische Anforderungen zu erfüllen, als der GK-2018. Diese Fortschritte können daher als Ausgangspunkt für eine neue Diskussion über einen nationalen GK dienen, der die relevanten Partner wie Spitäler, Ethikkommissionen, Datenschutzbehörden und Patientenverbände zusammenbringt, um die seit 2018 erwarteten Verbesserungen zu erreichen.

Das Wichtigste in Kürze

• Zurzeit werden eine beträchtliche Anzahl biologischer Proben und gesundheitsbezogener Daten von Patienten, die ­positiv auf COVID-19 getestet wurden, gesammelt.
• Mit dem Generalkonsent (GK) können Personen, die im Spital behandelt werden, in die Weiterverwendung ihrer Daten und Proben für Forschungsprojekte einwilligen.
• Die Autorinnen zeigen die Schwächen und das Verbesserungspotenzial der GK-Version von 2018 auf, die aktuell in Kraft ist.
• Schwachpunkte bestehen im unklar definierten Kreis der Empfänger, in der Gültigkeitsdauer und dem Anwendungsbereich des GK, zudem in der Anonymisierung der Daten, bezüglich der Rückmeldung individueller Befunde und fehlender zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen (dazu gehören Aufbewahrungsverfahren, Governance-Regeln der Institutionen, die die Proben und Daten beherbergen sowie Bestimmungen über die Folgen eines Widerrufs der Zustimmung).
Prof. Dr. Franziska Sprecher, Rechtsanwältin, Zentrum
für Gesundheitsrecht und Management im Gesundheitswesen,
franziska.sprecher[at]rw.unibe.ch
 1 Vgl. die auf der Website von swissethics veröffentlichte Liste im ­Zusammenhang mit COVID-19: swissethics.ch/covid-19/approved-projects.
 2 Rudin B., in: Rütsche (Hrsg.), Humanforschungsgesetz (HFG), Bundesgesetz vom 30. September 2011 über die Forschung am Menschen, SHK – Stämpflis Handkommentar, 2015, Art. 34, N 25–26.
 3 Mitteilung swissethics vom 06.05.2020: Die Einhaltung ethischer und rechtlicher Standards bei den Ethikkommissionen während der COVID-19-Pandemie: swissethics.ch/news/2020/05/06/die-einhaltung-ethischer-und-rechtlicher-standards-bei-den-ethikkommissionen-waehrend-der-covid-19-pandemie.
 4 EUREC Board, Position des Europäischen Netzwerks der Ethikkommissionen in der Forschung (EUREC) zur Verantwortung der Ethikkommissionen in der Forschung während der COVID-19 Pandemie, 27.04.2020: eurecnet.org/documents/Position_EUREC_COVID_19.pdf.
 5 Rudin B., «Generaleinwilligung» braucht Einbettung, Digma, Heft 3, 2013, 94–102.
 6 Baeriswyl B., «Generaleinwilligung» bei Biobanken, Digma, Heft 3, 2013, 90–94; Manaï D., Droits du patient face à la biomédecine, Stämpfli, 2013, 525.
 7 Für mehr Details: SCTO, Regulatory affairs watch, Issue 3, March 2020, S. 11.
 8 Swiss Biobanking Platform, Evaluation report V1/2017: National consent, March 2018, swissbiobanking.ch/evaluation-of-the-­national-consent/.
10 Mitteilung vom 22.02.2019: Veröffentlichung der Version 2 des nationalen Generalkonsents swissethics.ch/fr/news/2019/02/22/veroeffentlichung-der-version-2-zum-nationalen-generalkonsent.
11 Da der GK langfristig angelegt ist und die Urteilsfähigkeit im Laufe der Zeit und je nach den Umständen variiert, kann die individuelle Entwicklung und Reife der Betroffenen zu einem veränderten Verständnis der Bedeutung und der Risiken führen. Der GK-2018 berücksichtigt diese Variabilität in der Beurteilung nicht.
12 Weber R.H., Oertly D., Aushöhlung des Datenschutzes durch De-Anonymisierung bei Big Data Analytics?, in: Jusletter IT 21. Mai 2015; Lovis C., Gaudet-Blavignac C., Chevrier R., Robert a., Issom D., Foufi V., Big Data, intelligence artificielle, blockchain: guide pratique, Revue Médicale Suisse, Vol. 14, 2018, 1559–1563.
13 Baeriswyl B., Anonymisierung von genetischen Daten?, Digma, Heft 1, 2008, 14–18.
14 Schickhardt C., Fleischer H., Winkler, E.C. Do patients and research subjects have a right to receive their genomic raw data? An ethical and legal analysis. BMC Medical Ethics, 21:7, 2020.
15 Working Group General Consent unimedsuisse, Recommendations concerning the application of the General Consent version 2019, Version 1.0, 12.1.2020: unimedsuisse.ch/fr/projets/consentment-general.