Listen der ambulant durchzuführenden Untersuchungen und Behandlungen in Spitälern

«Ambulant vor stationär»: Herausforderungen bei der Umsetzung

FMH
Ausgabe
2020/36
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19145
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(36):1063-1066

Affiliations
a Dr. phil., Experte Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH; b Dr. med., Expertin und stv. Leiterin Abteilung Stationäre Versorgung und Tarife, FMH

Publiziert am 01.09.2020

Die Bundesliste der primär ambulant durchzuführenden Spitaleingriffe fordert die Ärzteschaft bei der praktischen Umsetzung. Die Abweichungen zwischen Bundesliste und kantonalen Listen sowie der Interpretationsspielraum bei den Ausnah­mekriterien lenken den Fokus weg von klinischer zu administrativer Tätigkeit. Wie kann eine Trendwende hin zu administrativ schlanker ambulanter Medizin erreicht werden?
Seit dem 1. Januar 2019 gilt schweizweit die Bundesliste mit sechs Gruppen von Eingriffen, die grundsätzlich ambulant durchzuführen sind [1]. Gleichzeitig kommen in verschiedenen Kantonen umfassendere Listen zur Anwendung. Nur wenn spezifische Ausnahmekriterien erfüllt sind, werden die aufgeführten Eingriffe auch im stationären Setting vergütet. Im Folgenden werden die Ansichten der Ärzteschaft zum Thema «ambulant vor stationär» sowie einige Herausforderungen bei der Umsetzung der nationalen und kantonalen Vorgaben dargestellt.

Ärzteschaft gegenüber «ambulant vor stationär» offen eingestellt

Zwei repräsentative Mitgliederbefragungen, die 2018 und 2019 im Auftrag der FMH durchgeführt wurden, ermittelten die Einstellungen und Erfahrungen mit der «ambulant vor stationär»-Liste des Bundesamts für Gesundheit (BAG) [2]. Bei der vorwiegend betroffenen, akutsomatischen Ärzteschaft erhöhte sich die Akzeptanz der BAG-Liste von 41 auf 45%, während der ableh­nende Anteil von 36 auf 29% sank (Abb. 1). Mehr Skepsis bestand im Hinblick auf einen Ausbau der Liste (Abb. 2). Zudem hatte sich rund ein Viertel der Befragten weder zur BAG-Liste noch zu deren Ausweitung eine Meinung gebildet. Die ambulante Durchführbarkeit und die zu erwartenden Kostenersparnisse waren die beiden wichtigsten Gründe für die Zustimmung zur Ausweitung der BAG-Liste. Als wichtigste Ablehnungsgründe nannten die Befragten demgegenüber die Einschränkung der Behandlungsfreiheit sowie der Patientensicherheit.
Abbildung 1: Zustimmung zur «ambulant vor stationär»-Liste des BAG (Akutsomatik, in %).
Abbildung 2: Zustimmung zu einer Ausweitung der «ambulant vor stationär»-Liste des BAG (Akutsomatik, in %).

Ambulant vs. stationär: vergleichbare Komplikationsraten

Zur Erfassung der Ausgangslage1 («Baseline») interessierte in der Umfrage von 2019, welche Eingriffe auf der BAG-Liste wie oft im Jahr 2018 persönlich durchgeführt wurden, welcher Prozentanteil dabei am­bulant respektive stationär erfolgte und wie hoch die ­jeweiligen Komplikationsraten waren.2 Die Rücklaufquote der ­Befragung betrug bei der akutsoma­tischen Ärzteschaft knapp 21%, und 204 Befragte ­gaben an, selber solche Eingriffe durchgeführt zu ­haben. Die wichtigsten Ergebnisse sind in den Abbildungen 3 bis 5 graphisch ­dargestellt. Kniearthroskopien waren beispielsweise mit 1783 Eingriffen, die von 69 der befragten Ärztinnen und Ärzte durchgeführt wurden, die grösste Eingriffsgruppe. Ferner wiesen einseitige Krampfader­operationen der Beine mit 85% den höchsten Anteil an ambulant durchgeführten Fällen auf. Hinsichtlich Komplikationen ergab sich ein relativ homogenes Bild. Alle sechs Eingriffsgruppen verzeichneten weniger als 5% Komplikationen, unabhängig davon, ob sie stationär oder ambulant durchgeführt wurden. Es ist wichtig, die Verschiebungsprozesse von stationären zu ambulanten Eingriffen künftig auch anhand routinemässig erhobener Administrativdaten über mehrere Jahre hinweg zu verfolgen. Ebenso ist es zentral, mittels solcher ­Daten zu überprüfen, welchen Effekt die Einführung der ­Listen auf die Komplikationsrate hat. Nur wenn diese mit der vermehrten Verschiebung von stationär nach ambulant nicht ansteigt, ist die Massnahme auch im Hinblick auf die Patientensicherheit zielführend.3 Die FMH hat deshalb im Rahmen des BAG-Gremiums «Austauschgruppe der Steakholder ambulant vor stationär» die Wichtigkeit eines Monitorings stets betont. Die Arbeiten des BAG zu den Evaluationsmöglichkeiten laufen seit 2019. Primär sollen Auswir­kungen der BAG-Liste auf die Qualität, den adminis­trativen Aufwand und die Kosten der selektierten Behandlungen untersucht werden [3].
Abbildung 3: Anzahl Fälle und Anzahl Ärztinnen/Ärzte je Eingriffsgruppe für das Jahr 2018 (Akutsomatik). 
(Hinweis: Hier handelt es sich um jene Ärztinnen und Ärzte der ursprünglich angeschriebenen Stichprobe, welche geantwortet haben und solche Eingriffe selbst durchführten).
Abbildung 4: Anteile der ambulant respektive stationär durchgeführten Fälle je Eingriffsgruppe für das Jahr 2018 
(Akutsomatik, in %).
Abbildung 5: Anteil Komplikationen je Eingriffsgruppe und Durchführungsart (stationär vs. ambulant) für das Jahr 2018 
(Akutsomatik, in %).

Unterschiedliche Listen erhöhen den administrativen Aufwand

Per 1. Januar 2020 galten in zwölf Kantonen zusätzliche Listen [4]. Diese kantonalen Listen sind untereinander nicht deckungsgleich bezüglich der Art der ambulant durchzuführenden Eingriffe, der jeweiligen Ausnahmekriterien sowie betreffend den Prüfungsmodus durch die Krankenkassen (ex ante mittels Kostengutsprache oder ex post). Für kantonsübergreifend tätige Ärztinnen und Ärzte bedeutet dies interkantonal ­unterschiedliche Behandlungspfade und administrative Abläufe bei gleichem Patientenkollektiv. Eine schweizweit einheitliche Liste wirkt diesem zusätzlichen administrativen Aufwand aus Sicht der FMH effizient entgegen. Dieser Eindruck ergibt sich aufgrund unserer Erfahrungen bei der Beratung im Rahmen des Antragsverfahrens zur Weiterentwicklung der Ausnahmekriterien, welches 2020 erstmals durchgeführt wurde. Mehrere Fachgesellschaften nutzten die Ge­legenheit und unsere Unterstützung, um Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung auf­­zuarbeiten. Beispielsweise lassen vage formulierte Ausnahmekriterien wie «keine kompetente erwachsene Kontakt- oder Betreuungsperson im Haushalt oder telefonisch erreichbar und zeitnah vor Ort in den ersten 24 Std. postoperativ» Interpretationsspielraum, den die Leistungserbringer und Kostenträger unterschiedlich ­auslegen und so den Fokus von der medizinischen Behandlung zum administrativen Aufwand verschieben. Durch Anträge zur Präzisierung unklar formulierter Ausnahmekriterien und noch stärker zu berücksich­tigende Mobilitäts- und Morbiditätsmerkmale seitens der Patienten engagierten sich die Fachgesellschaften, um eine sachgerechtere Anwendung für Patienten und Ärzte zu bewirken. Auch die Aufnahme eingriffsspezifischer Ausnahmekriterien nach Rücksprache mit den betroffenen Fachgesellschaften war Inhalt eines Antrages. Das BAG schätzte die rege Beteiligung der FMH und ihrer Fachgesellschaften sowie die Bereitschaft von Fachgesellschaftsvertretern, in der Umsetzung der Anträge unterstützend mitzuwirken. So beabsichtigt das BAG unter Einbezug der Fachgesellschaften, Interpretationsblätter für unscharf formulierte Ausnahmekriterien zu erstellen. Infolge der Ressourcenbindung durch die ­COVID-19-Pandemie traten die Arbeiten des BAG zum Monitoring und zur Spezifizierung der Ausnahmekri­terien jedoch etwas in den Hintergrund.

Es ist eine schweizweit einheitliche Liste anzustreben

Die gemäss Befragungsergebnis wachsende Akzeptanz der BAG-Liste spricht für eine grundsätzlich als sinnvoll wahrgenommene Entwicklung. Der Prozess rund um «ambulant vor stationär» muss sich jedoch tragbar in den klinischen Alltag einfügen lassen. Daher ist es wichtig, dass die Rahmenbedingungen die ärztliche Behandlungsfreiheit und die Patientensicherheit stärken bei möglichst geringem administrativem Aufwand. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre die Synthese kantonaler Listen in einer Bundesliste ohne zusätzliche abweichende kantonale Varianten. Dazu gilt es, die Arbeiten des BAG zum Monitoring und zur Weiterentwicklung der «ambulant vor stationär»-Liste bzw. deren Ausnahmekriterien gezielt voranzutreiben. Die FMH und ihre Fachgesellschaften tragen gerne ­aktiv zur Überprüfung bestehender und neuer Ausnahmekriterien bei.
FMH
Abteilung Stationäre ­Versorgung und Tarife
Baslerstrasse 47
CH-4600 Olten
Tel. 031 359 11 11
Fax 031 359 11 12
tarife.spital[at]fmh.ch