Interview mit Martin Ackermann, Leiter der «Swiss National COVID-19 Science Task Force»

«Nehmen Sie selbst das Virus ernst und werden Sie so zum Vorbild»

Tribüne
Ausgabe
2020/38
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19181
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(38):1201-1203

Affiliations
Chefredaktor SÄZ

Publiziert am 15.09.2020

Trotz Aufhebung der «ausserordentlichen Lage» wollte der Bund weiterhin mit der im März gegründeten Science Task Force zusammenarbeiten. Seit August wird das wissenschaftliche Beratungsgremium von Martin Ackermann geleitet. Für den Biologen steht fest, dass eine Durchseuchung keine Alternative zum derzeit eingeschlagenen Weg darstellt und sich auch beim Eintreten einer zweiten Welle eine Ausbreitung des Virus dank Hygienemassnahmen und Social Distancing massgeblich eindämmen lässt.

Zur Person

Martin Ackermann studierte Biologie an der Universität Basel. Nach der Promovierung arbeitete der Schwyzer zwei Jahre als Postdoc an der UC San Diego. Im Herbst 2004 nahm er eine Stelle als Assistent an in der Gruppe von Sebastian Bonhoeffer an der ETH Zürich.
Martin Ackermann ist seit März 2006 SNF Professor und seit August 2008 ausserordentlicher Professor für Molekulare Mikrobielle Ökologie am Institut für Biogeochemie und Schadstoffdynamik der ETH Zürich.
Martin Ackermann: «Ermuntern sie zum Testen, auch bei nur schwachen Symptomen.»
Weshalb kam es bereits nach knapp vier Monaten zu einem Wechsel in der Leitung der Science Task Force?
Matthias Egger war als SNF-Präsident die ideale Person, um die Task Force auf die Beine zu stellen und zum Laufen zu bringen. Aber die SNF-Präsidentschaft ist nicht etwas, was längerfristig mit der Leitung der Task Force zu vereinbaren ist. Ich wurde deshalb angefragt, ob ich diese Rolle übernehmen würde. Es ist meiner Meinung nach sehr wichtig, dass die Wissenschaft ihre Expertise zur Bewältigung der COVID-19-Krise den ­politischen Behörden, aber auch der Bevölkerung zur Verfügung stellt.
SARS-CoV-2 wird gelegentlich mit Influenza ver­glichen und behauptet, die Mortalität der beiden Viruserkrankungen sei vergleichbar. Folglich seien die einschneidenden Massnahmen im Kampf gegen Covid-19 übertrieben. Ist SARS-CoV-2 wirklich so gefährlich?
Stand heute gibt es unter den Forschenden weltweit und auch innerhalb der Task Force einen grossen Konsens, dass die Infektionssterblichkeit von Sars-CoV-2 zwischen 0,5%–1% liegt – das ist 5- bis 10-mal höher als bei der saisonalen Grippe. Zudem fehlt bei SARS-CoV-2 eine relevante Grundimmunität in der Bevölkerung. Es ist klar geworden, dass dieses Virus gefährlich ist. Es kann das Gesundheitssystem überlasten und grosse Schäden anrichten, gesundheitliche wie auch wirtschaftliche.
Unter Expertinnen und Experten wird die Frage nach dem Nutzen einer Durchseuchung der Bevölkerung kontrovers diskutiert. Wie stehen Sie persönlich zu dieser Frage?
Die Task Force diskutiert diese Frage intensiv und wird in Kürze ein Papier dazu publizieren. Aus unserer Sicht ist klar: Eine Durchseuchung funktioniert nicht. Ein erstes und grosses Problem ist, dass wir zurzeit nicht wissen, ob und wie lange jemand nach einer Ansteckung immun ist. Es ist möglich, dass Menschen bereits ein paar Monate nach einer Infektion erneut infiziert werden können. Wir können also nicht davon ausgehen, dass eine Durchseuchung genügen würde, um weitere Infektionen zu verhindern. SARS-CoV-2 könnte weiter zirkulieren und die Epidemie würde nicht zum Stillstand kommen.
Gibt es noch weitere Argumente gegen die Durch­seuchungsstrategie?
Diese Überlegungen setzen voraus, dass die Epidemie immer unter Kontrolle bleibt und das Gesundheits­system nicht überlastet wird. Die Erfahrungen aus der ersten Phase der Pandemie haben aber gezeigt, dass es praktisch unmöglich ist, die Verbreitung des Virus vollständig zu kontrollieren oder besonders gefährdete Menschen zu schützen. Hinzu kommt, dass es noch sehr viele offene Fragen gibt, wer warum zu einer Risikogruppe gehört, resp. sich gezeigt hat, dass auch jüngere Menschen, die eigentlich nicht zur Risikogruppe gezählt werden, schwere Krankheitsverläufe und Langzeitschäden haben können. ­Zudem wäre der Versuch einer Durchseuchung eine enorme Belastung für die Gesellschaft und die Wirtschaft.
Wie gut gelingt es der Task Force, die von ihr bereit­gestellte wissenschaftliche Evidenz in die Politik zu bringen? Was ist dabei förderlich, was ist hinderlich?
Ich sage immer: Wir bringen die wissenschaftliche Sicht ein, doch wir sind eine Stimme unter anderen. Anderer Meinung zu sein und sich darüber auszutauschen, ist in einer so aussergewöhnlichen Situation dringend notwendig – sonst würde man sich womöglich in eine Richtung verrennen.
Die Ausbreitung eines Virus hält sich nicht an föderale Strukturen. Wäre es aus epidemiologischer Sicht nicht sinnvoller, die verschiedenen Massnahmen der Kantone zu synchronisieren?
Das ist primär eine politische Frage. Grundsätzlich befürworte ich eine Eindämmungsstrategie, bei der man auch regionaler und gezielter dort Massnahmen treffen kann, wo es aufgrund der Fallzahlen angezeigt ist. Was es allerdings dazu braucht, sind verlässliche Daten.
Bei der Impfstoffforschung gegen das Coronavirus haben genetische Impfstoffe die Nase weit vorne. Man weiss jedoch noch wenig über eventuelle Nachteile solcher Vakzine. Ist das nicht gefährlich?
Bei allen Impfstoffen muss die Sicherheit an erster Stelle stehen. Genetische Impfstoffe bergen meiner Meinung nach nicht grundsätzlich ein höheres Risiko, aber wir haben in der Tat noch wenig Erfahrung damit. Doch genetische Impfstoffe haben auch Vorteile – zum Beispiel sind unbeabsichtigte Infektionen ausgeschlossen. Und bei solchen Impfstoffen verläuft zudem die erste Phase der Entwicklung viel schneller, was in der aktuellen Situation natürlich ein Pluspunkt ist.
Was halten Sie von der Schnellzulassung eines Impfstoffes ohne Phase 3?
Wenn ein schlecht geprüfter Impfstoff gesundheitliche Schäden anrichten würde, wäre das verheerend – nicht nur für den Moment, sondern auch weil das die Glaubwürdigkeit von Impfungen generell untergraben würde. Es braucht deshalb die Phase-3-Studien unbedingt.
Auf wann erwarten Sie einen wirksamen, gut verträglichen und breit getesteten Impfstoff gegen Covid-19?
Genau kann das niemand sagen. Doch es ist enorm, wie viele und schnelle Fortschritte die Forschung macht, um einen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zu entwickeln. Ich bin deshalb optimistisch, dass nächstes Jahr die ersten Impfkampagnen in der Schweiz anlaufen können. Was mich zusätzlich optimistisch stimmt: Wir haben Hinweise, dass die Immunität durch einen Impfstoff stärker und besser schützt als die Immunität, die man sich durch eine Ansteckung erworben hat.
Ist die Task Force bei den Entscheiden des Bundes bezüglich Impfstoffe involviert?
Die Task Force hat gewisse Aufgaben in der Evaluation von Impfungen. Mitglieder der Task Force werden zu Rate gezogen werden, wenn es darum geht, Nutzen und Risiken von neuen Impfstoffen einzuschätzen.
Welche Massnahmen wären aus Ihrer Sicht angezeigt, falls die Schweiz von einer ausgeprägten zweiten Welle überrollt wird?
Die wichtigen Massnahmen sind ja alle bekannt: Abstand, Hygiene und Masken. Bei einem Anstieg der Fallzahlen müssen wir diese Mittel intensivieren. Dem Abstandhalten im persönlichen und geschäftlichen Umfeld kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Steigen die Fallzahlen, sollten die Menschen wieder vermehrt im Homeoffice arbeiten und auch in ihrem Privatleben darauf achten, Abstand zu Mitmenschen zu wahren.
Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass mittelfristig erneut medizinische Tätigkeiten verboten oder eingeschränkt werden, um die Kapazitäten der Gesundheitsversorgung sicherzustellen?
Auch die Spitäler und Praxen stehen vor der gleichen Herausforderung wie die Gesellschaft insgesamt: Nämlich flexibel auf die epidemiologische Entwicklung reagieren zu müssen. In der Schweiz haben wir viel gelernt und zusätzliche Ressourcen bereitgestellt, das heisst wir stehen nicht mehr am gleichen Punkt wie im März oder April. Auch die Spitäler müssen ­vorausschauend planen und wissen, wann es eng wird. Ziel ist natürlich, dass nicht erneut medizinische ­Tätigkeiten verboten oder eingeschränkt werden ­müssen.
Welche Aufgaben kommen in den nächsten Monaten auf die Ärztinnen und Ärzte zu?
Als Erstes möchte ich mich vor allem bedanken! Es ist unglaublich, was das ganze medizinische Personal in den letzten Monaten geleistet hat, und es hat sich gezeigt, wie gut wir in der Schweiz aufgestellt sind. Für die nächsten Monaten sehe ich vor allem eine Herausforderung: Durchhalten!
Was möchten Sie der Ärzteschaft noch mitteilen?
Wir können Sars-CoV-2 nur gemeinsam eindämmen. Hier spielen die Ärztinnen und Ärzte natürlich eine entscheidende Rolle. Ermuntern sie zum Testen, auch bei nur schwachen Symptomen. Sammeln Sie möglichst vollständige Daten und leiten Sie diese weiter. Nehmen Sie selbst das Virus ernst und werden Sie so zum Vorbild.
matthias.scholer[at]emh.ch