Sprachbarrieren in der ärztlichen Konsultation

Tribüne
Ausgabe
2020/47
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19183
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(47):1586-1588

Affiliations
MD, Assistenzärztin Pädiatrie, RHNe Neuchâtel

Publiziert am 17.11.2020

Der hohe Anteil an Menschen, die der Landessprachen nicht oder nur sehr ­rudimentär mächtig sind, führt in Gesundheitsinstitutionen zu mannigfachen Problemen für die Betroffenen, fordert aber auch die Gesundheitsfachpersonen. Dolmetscherinnen und Dolmetscher sowie Kommunikationshilfen sind unabdingbar, werden aber von der Ärzteschaft noch zu zögerlich eingefordert und eingesetzt.

Ein zentraler Teil der Patientenrechte

Die Notwendigkeit von Dolmetscherleistungen in Gesundheitsinstitutionen bei Patientinnen und Patienten, die der lokalen Sprache nicht genügend mächtig sind, ist international unbestritten.
Das Verstehen von diagnostischen und therapeu­tischen Vorgängen kann als ein zentraler Teil der ­Patientenrechte verstanden werden und ist Schlüssel für den Behandlungs- und Betreuungserfolg. Der Einsatz von Kommunikationshilfen im Gesundheitswesen fördert daher das Recht auf Chancengleichheit und verbessert Qualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit. Mit der Überwindung von Sprachbarrieren kann eine Anamnese erhoben, und Fehl-, Unter- oder Überversorgung können verhindert ­werden [1].
Sprachunkundige Personen haben oft Migrations­hintergrund, ein niedriges Bildungs- und Einkommensniveau. Sie sind weder in der Lage, ihre Patientenrechte durchzusetzen noch die Kosten dafür zu tragen. Auf ethisch-rechtlicher Ebene sind Dolmetscherleistungen durch Minderjährige, Familienangehörige oder Bekannte nicht vertretbar. Denn sie sind dem vertraulichen Arzt-Patienten-Gespräch nicht zuträglich, da Patienten – sei es aus Scham oder Rücksicht – weniger offen kommunizieren, die Patientenautonomie und Würde verletzt wird und die Qualität der Übersetzung selten verifiziert werden kann. Insbesondere ­Kinder verfügen meist nicht über ge­nü­gende Sprachkenntnisse, um als Dolmetscherinnen oder Dol­met­scher zu fungieren.

Sprachliche Herausforderungen

Erhebliche Hürden im klinischen Alltag sind der Zeit- und Kräfteaufwand bei der Suche nach angemessenen, verfügbaren Dolmetscherangeboten [2]. Es gibt bei nichteuropäischen Sprachen keine Qualitätssicherung oder strukturierte fachliche Anerkennung; aufgrund der Flüchtlingswellen und globalen Migration hinkt das Angebot der Nachfrage gewöhnlich erheblich hinterher. Übersetzungsleistungen, die sich im Rahmen der medizinischen Versorgung in der Grundversicherung als notwendig erweisen, können nicht als Ver­sicherungsleistung angerechnet werden. Das Bundesgericht vertritt die Ansicht, die Übersetzung habe nur unterstützenden, nicht aber medizinischen Charakter, die Krankenkassen seien damit nicht zur Kostenübernahme verpflichtet [1].
Gemäss Erhebungen des Bundesamts für Statistik (BFS) [3] hatte die Schweiz 2018 eine Wohnbevölkerung von rund 8,5 Millionen, davon sind ungefähr 2,5 Millionen im Ausland zur Welt gekommen, circa 1 Million ist seit weniger als 10 Jahren in der Schweiz und über 2 Millionen sind Ausländerinnen und Ausländer (ohne schweizerische Staatsangehörigkeit). Die meisten Menschen ohne Schweizer Pass stammen aus den Nachbar­ländern, das heisst, sie sprechen vermutlich eine Schweizer Amtssprache. Allerdings fehlen Asylsuchende, Minderjährige, illegale Immigrantinnen und Immigranten sowie Gastarbeiterinnen und -arbeiter in dieser Statistik.
Gemäss Angaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) [4] wurden 2018 14 269 Asylgesuche eingereicht (ein starker Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren infolge restriktiver Einwanderungspolitik) und rund 1 Million Visumanträge gestellt. Zu beachten ist, dass viele Länder von der Visumpflicht befreit sind – ohne Bedingung von Sprachkenntnissen [5]. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund der ersten Generation umfasst laut BFS [3] 2,1 Millionen, wovon rund 30% keine Landessprache sprechen (Abb. 1).
Abbildung 1: Personen ab 15 Jahren mit einer Landessprache als Hauptsprache, 2014–2016.
Eine Bevölkerungsbefragung des BFS [3] zeigt, dass über 1 Million Menschen zu Hause eine Fremdsprache spricht, wobei zu beachten ist, dass man mehrere Sprachen angeben konnte, und davon ausgegangen werden muss, dass eine einer Landessprache unkundige Person gar nicht befragt werden konnte (Abb. 2).
Abbildung 2: Üblicherweise zu Hause gesprochene Sprachen, 2016–2018.
Weiter geben die statistischen Daten keine Auskunft über das Sprachniveau. Gemäss wissenschaftlichen Empfehlungen ist für die Arzt-Patienten-Kommuni­kation ein hohes Sprachniveau erforderlich. Erfahrungsgemäss wird das Sprachniveau überschätzt, und ­subtilere Verständigungsprobleme werden nicht wahrgenommen. Eine Schweizer Studie vom Kollegium für Hausarztmedizin [6] befragte 2017 online 599 Haus­ärztinnen und -ärzte sowie niedergelassene Kinder­ärztinnen und -ärzte: Nur 30,1% gaben an, mehr als einmal in der Woche relevante Verständigungsprobleme aufgrund von Sprachbarrieren zu haben!
Gemäss Angaben von INTERPRET wurden 2019 insgesamt rund 305 700 Dolmetschereinsätze verzeichnet, davon fielen rund 163 000 in den Bereich Gesundheit [7]. Zu den häufigsten Sprachen zählen mit je ungefähr 12% Tigrinya, Arabisch und Persisch (Farsi/Dari/Pashto). ­Tamil, Albanisch, Bosnisch/Kroatisch/Serbisch, Portugiesisch, Türkisch und Spanisch waren über die letzten Jahre konstant bedeutsam (Abb. 3). Diese Sprachen ­widerspiegeln den direkten Zusammenhang mit den aktuellen Migrations- und Flüchtlingsbewegungen und decken circa 75% aller Einsätze ab.
Abbildung 3: Verlauf der 10 häufigsten Sprachen bei Dolmetscheinsätzen, 2014 bis 2019.

Unzureichende Sensibilisierung der ­Ärzteschaft

Internationale Studien [2, 8] zur konkreten Anwendung von Dolmetscherleistungen bestätigen grosse Defizite in der Umsetzung. Die statistischen Erhebungen zeigen, dass Dolmetscher auch im Schweizer Gesundheitswesen zu wenig angefordert werden. Es muss eine hohe Dunkelziffer an Menschen geben, die wegen sprachlicher Verständigungsprobleme um eine gute Gesundheitsversorgung und um ihre Patientenrechte kommen.
Der Entscheid über den Beizug eines Dolmetscherdienstes wird in der Praxis von der Ärzteschaft schwerfällig und zurückhaltend gefällt, obwohl objektiv für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht als notwendig erachtet. Es ist zu bezweifeln, dass diese enttäuschende Haltung nur auf administrative und finanzielle Hürden zurückgeführt werden kann. Vielmehr ist eine unzureichende Sensibilisierung (denial bias) der Ärzteschaft zu vermuten [9].
Allerdings ist ein Grossteil der fremdsprachigen Patientinnen und Patienten der lokalen Hauptsprache nicht völlig unkundig und braucht in akut-medizinischen Situationen nicht unbedingt eine dolmetschende Fachkraft, wohl aber eine Kommunikationshilfe. Eine solche könnte rein visuell sein, indem über illustrierte Symptome die Anamnese erhoben wird.

Das Wichtigste in Kürze

• Dolmetscherleistung in Gesundheitsinstitutionen sind eminent für Menschen, die der lokalen Sprache nicht genügend mächtig sind. Das Verstehen von diagnostischen und therapeutischen Vorgängen ist ein zentraler Teil der Patientenrechte.
• Bei nichteuropäischen Sprachen, die einen Grossteil der Einsätze von Dolmetscherdiensten ausmachen, gibt es keine Qualitätssicherung oder strukturierte fachliche Anerkennung; aufgrund der Flüchtlingswellen und globalen Migration hinkt das Angebot der Nachfrage erheblich hinterher.
• Die Autorin konstatiert, dass der Einsatz von Kommunika­tionshilfen im Gesundheitswesen das Recht auf Chancengleichheit verbessere, Qualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit fördere.
• Der Entscheid über den Beizug eines Dolmetscherdienstes werde aber in der Praxis von der Ärzteschaft zu schwerfällig und zurückhaltend gefällt, obwohl für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht notwendig.

L’essentiel en bref

• Les services d’interprétation dans les établissements de soins de santé sont essentiels pour les personnes ne maîtrisant pas suffisamment la langue locale. La compréhension des procédures diagnostiques et thérapeutiques est un élément central des droits des patients.
• Il n’existe pas d’assurance qualité ni de reconnaissance professionnelle structurée pour les langues non européennes, qui représentent une grande partie des séances d’interprétation; en raison des vagues de réfugiés et de la migration mondiale, l’offre est nettement inférieure à la demande.
• Selon l’auteur, l’utilisation d’aides à la communication dans les soins de santé améliore le droit à l’égalité des chances et favorise la qualité, l’efficacité et l’efficience.
• Toutefois, le corps médical recourt souvent avec réticence à un service d’interprétation ou le fait de manière maladroite, alors que celui-ci est partie intégrante du devoir de diligence.
Felicitas Mueller
Langmattweg 5
CH-8053 Zürich
felicitas_mueller[at]gmx.ch
1 Expertengruppe im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG und H+ Die Spitäler der Schweiz. Bericht über die Finanzierung von Dolmetschleistungen zugunsten der Angehörigen der Bevölkerung, welche die jeweilige Amtssprache nicht verstehen, in den schweizerischen Gesundheitsinstitutionen; Bern 2008.
2 Fox MT, Godage SK, Kim JM, Bossano C, Muñoz-Blanco S, Rein­-
hardt E, et al. Moving From Knowledge to Action: Improving Safety and Quality of Care for Patients with Limited English Proficiency. Clin Pediatr (Phila). 2020;Jan 23:9922819900950.
5 Staatssekretariat für Migration SEM: Visa Monitoring. Entwicklung der Visumerteilung durch Schweizer Auslandvertretungen. Jahresausgabe 2018.
6 Jaeger FN, Pellaud N, Laville B, Klauser P. The migration-related language barrier and professional interpreter use in primary health care in Switzerland. BMC Health Serv Res. 2019;27;19(1):429.
7 Schweizerische Interessengemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln. Einsatzstatistiken 2019, inter-pret.ch/de/service/statistiken-77.html.
8 Taira BR, Torres J, Nguyen A, Guo R, Samra S. Language Assistance for the Care of Limited English Proficiency (LEP) Patients in the Emergency Department: A Survey of Providers and Staff. J Immigr Minor Health. 2020 Jan 2.
9 Lundin C, Hadziabdic E, Hjelm K. Language Interpretation conditions and boundaries in multilingual and multicultural emergency healthcare. BMC Int Health Hum Rights. 2018;5;18(1):23.