Die letzten Wochen und Monate haben viele von uns als einschneidend und verändernd erfahren. In dieser Zeit hat mich nicht nur die aktuelle, weltumspannende Pandemie beschäftigt, sondern auch die alltägliche Betreuung von Patientinnen und Patienten. Ein Beispiel:
Ein 90-jähriger, selbständiger Ehemann und Urgrossvater/Grossvater/Vater, der mit seiner 88-jährigen Ehefrau als Selbstversorger in seinem Haus wohnt, begibt sich nach längerem Leiden wegen Kraftlosigkeit und langsamen Pulses in die hausärztliche Behandlung. Es kommt zu einer kardialen Dekompensation und Schrittmachereinlage. Das nichtinvasive Ultraschallbild des Herzens liefert einen Befund, der pathognomonisch ist und die Kraftlosigkeit erklärt. Die weiteren Untersuchungen bestätigen Hinweise auf Ablagerung von gefalteten Proteinen (Amyloidose). Der Spezialarzt wird kontaktiert und empfiehlt eine Herzbiopsie zur Diagnosesicherung und danach Evaluation allfälliger Therapieoptionen. Es liegt eine Patientenverfügung vor, die eine rein supportive Therapie festlegt. Soweit zum medizinischen Teil.
Es ist die Generation, die nicht mit «Dr. Internet» aufwuchs und ein anderes Vertrauensverhältnis zur Ärzteschaft hat. Es wird gemacht, was der Arzt, respektive die Ärztin, empfiehlt. Ein Hinterfragen der Untersuchung oder Widerspruch gibt es nicht. Umso mehr überrascht mich das Verhalten einiger behandelnder Ärzte: Müssen zur Diagnosesicherung wirklich alle Optionen ausgereizt werden – auch eine Biopsie? Eine nichtinvasive Untersuchung, die bis zu den neuen Möglichkeiten der invasiven Diagnostik der Goldstandard war, reicht nicht mehr aus. Was möglich ist, wird gleichzeitig als notwendig erachtet. Ist dem wirklich so?
Mir ist eine exakte Diagnose im Alltag wichtig, und mir ist bewusst, wie bedeutend dies auch für Patientinnen und Patienten ist – doch darf man meines Erachtens nicht die Aufwendungen für die Betroffenen und die Risiken vergessen, die bestimmte Diagnosemethoden mit sich bringen. Im genannten Beispiel wird der 90-jährige Mann einen Krankentransport von knapp 70 km in eine spezialisierte Klinik, eine Anästhesie für die Untersuchung, eine stationäre Nachbetreuung in fremder Umgebung und den Rücktransport in seine Heimat «erleiden». Eventuelle Komplikationen nicht inkludiert. Ist das unbedingte Anwenden verschiedener Diagnosemethoden in diesem Falle gerechtfertigt? In Gesprächen mit Kollegen, die Spezialärzte für dieses Gebiet sind, hörte ich von allen: «Ich würde all dies an meinem (Gross-)Vater nicht durchführen lassen, aber die Diagnostik ist wichtig.» Diese Haltung hat mich überrascht.
Obliegt es nicht uns Ärztinnen und Ärzten, die Vor- und Nachteile vorab abzuwägen und darzustellen, um den Patienten oder die Patientin zu unterstützen, die für ihn oder sie beste Entscheidung zu treffen? Unabhängig der Generation «Dr. Internet» sehe ich uns zunehmend mit Leitlinien, Vorgaben etc. konfrontiert und innerhalb dieser relativ engen Sphären Medizin «betreiben». Natürlich müssen wir uns immer auch (rechtlich) absichern. Das Gesamtbild, den Patienten oder die Patientin mit seinen respektive ihren Bedürfnissen zu beachten, kann jedoch so verloren gehen oder den Leitlinien weichen.
Es gibt mehrere Beispiele, hier sei dieses genannt. Meines Erachtens würde es uns Ärztinnen und Ärzten guttun, mehr über die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen zu erfahren. Leitlinien möchte ich als Unterstützung und nicht als Handlungsvorgabe sehen. Alles medizinisch Mögliche ist vielleicht nicht immer im Sinne der Patientin oder des Patienten. Abschliessend möchte ich festhalten, dass es mir in keiner Weise um den monetären Aspekt geht, sondern um den respektvollen Umgang mit den Patientinnen und Patienten, die sich in unsere Obhut begeben.
daniel.schroepfer[at]zuerich.ch
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