VLSS-Mitgliederbefragung 2019

Anstellungsbedingungen der Kaderärzteschaft an Schweizer Spitälern

Organisationen der Ärzteschaft
Ausgabe
2020/42
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19191
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(42):1350-1357

Affiliations
a Prof. Dr. med., Präsident VLSS; b Dr. iur., Geschäftsleiter VLSS; c Sekretariatsleiter VLSS

Publiziert am 13.10.2020

Der Verein der Leitenden Spitalärzte der Schweiz (VLSS) ist in der FMH die Basis­organisation für die in der Schweiz tätigen Chefärztinnen und Chefärzte sowie die Leitenden Spitalärztinnen und Spitalärzte. Seit Jahren evaluiert er dank Mitgliederbefragungen, wie sich die Anstellungsbedingungen an den Spitälern entwickeln.
Der VLSS interessiert sich für die Arbeitsverhältnisse der Chefärztinnen und -ärzte sowie der Leitenden Spitalärztinnen und -ärzte und führt deshalb regelmässig Befragungen durch. Die erste Erhebung datiert vom Herbst 2003. Damals hat die Private Hochschule Wirtschaft PHW Bern im Auftrag der SDK (heute GDK) sowie des VLSS eine umfangreiche Befragung bei der Schweizer Kaderärzteschaft sowie bei einigen öffent­lichen Spitälern durchgeführt [1]. Die Erhebung erreichte eine hohe Rücklaufquote. Sie zeichnete so ein relativ verlässliches Bild der damaligen Situation an den Spitälern.
Im Jahr 2011 führte der VLSS eine kurze Online-Umfrage beim gleichen Adressatenkreis durch, insbesondere um die Entwicklung der Einkommensverhältnisse weiterzuverfolgen. Vor vier Jahren befragte der VLSS seine Vereinsmitglieder erneut. Im Fragebogen wurden bewusst bestimmte Fragen aus früheren Erhebungen wiederholt. So lassen sich die Ergebnisse besser vergleichen. Im Jahr 2019 hat der VLSS seine Be­fragung zum dritten Mal wiederholt. Es nahmen insgesamt 318 Personen teil, was einer Rücklaufquote von 32,4 Prozent entspricht [2].
Durchschnittlich arbeiten die Befragten 59,8 Stunden pro Woche. Während 86 Prozent der Chefärztinnen und Chefärzte Vollzeit arbeiten, praktizieren etwas weniger als 2 von 3 Leitenden Spitalärztinnen und -ärzten Vollzeit (62%). Beim Beschäftigungsgrad lassen sich geschlechterspezifische Unterschiede feststellen. Chef- und Kaderärztinnen sind häufiger Teilzeit angestellt als ihre männlichen Kollegen (47 vs. 21%).
Der VLSS erhebt mit seinen Befragungen nicht den Anspruch, wissenschaftlich fundierte Angaben zur Entwicklung der Einkommenshöhe sowie der Anstellungsbedingungen der Kaderärzteschaft in der Schweiz zu machen. Die Umfrage dient primär internen Zwecken. Mit der vorliegenden Publikation wollen wir aber auf eini­ge unseres Erachtens signifikante Trends hinweisen. Es geht uns auch darum, das in den Medien vielfach kolportierte Bild einer stark unabhängig agierenden Chef- und Kaderärzteschaft zu korrigieren [3]. In den meisten Fällen können sie nicht mehr eigenständig Budgets verwalten. Ihre eigenen Gesamtbezüge sowie die Löhne der Mitarbeitenden sind heute streng reguliert und werden meistens vom Kanton und/oder von den Verwaltungs­räten der Spitäler hoheitlich festgelegt. Oft stehen gar keine Mittel, wie z.B. Poolgelder, mehr zur Verfügung, um autonom ärztliche Ziele erreichen zu können.
Weil die genannten Umfragen auf ähnlichen Fragerastern basieren und ähnlich erhoben wurden, konnten wir den folgenden Fragestellungen vertieft nachgehen und dabei auch Entwicklungen über die Zeitachse beleuchten.
1. Wie haben sich die Gesamteinkommen Chefärztinnen und Chefärzte sowie der Leitenden Ärztinnen und Ärzte entwickelt?
2. Wie bedeutend sind variable Einkommensbestandteile?
3. Haben sich die Arbeitsbedingungen verändert?
4. Wie verbreitet sind Management-Qualifikationen unter den Kaderärzten?
5. Wie sieht es mit der Berufszufriedenheit aus?

Entwicklung der Gesamteinkommen

Wir haben die Einkommen der Kaderärztinnen und -ärzte unabhängig von ihrer medizinischen Fachrichtung erhoben. Zwischen 2002 und 2019 haben sich die Einkommen relativ stabil entwickelt. Während die Chefärztinnen und Chefärzte in den letzten drei Jahren wieder leicht mehr verdienten, sanken die Einkommen der Leitenden Kaderärztinnen und -ärzte leicht auf das Niveau von 2002 (siehe Grafik 1). Daraus einen für die Schweiz geltenden Trend abzuleiten ist aus unserer Sicht nicht zulässig. Die Datenlage lässt keine repräsentativen Ergeb­nisse zu.
Grafik 1: Entwicklung der Gesamteinkommen von Chefärztinnen und Chefärzten sowie von Leitenden Ärztinnen und Ärzten.
Werden die Einkommen der Kaderärztinnen und -ärzte nach Regionen unterteilt, zeigen sich unterschiedliche Entwicklungsmuster (siehe Grafik 2). Während die Gesamteinkommen in der Region 2 (Kantone FR, GE, JU, NE, TI, VD und VS) im Zeitraum von 2002 bis 2019 anstiegen, blieben sie im gleichen Zeitraum in den Regionen 1 (BE, BL, BS, AG, SO) und 4 (LU, NW, OW, SZ, UR, ZG) stabil. In der Region 3 (GR, AI, AR, GL, SG, SH, TG und ZH) sind die Einkommen in den letzten drei Jahren wieder leicht angestiegen, nachdem sie zwischen 2011 und 2016 gesunken waren. Alle Regionen bewegten sich 2019 ungefähr im Bereich eines gesamtschweize­rischen Durchschnitts. Auch hier gelten die oben erwähnten Vorbehalte, und wir sind nicht in der Lage, die Einkommen nach Fachrichtungen aufzuschlüsseln.
Grafik 2: Gesamteinkommen der Kaderärztinnen und -ärzte nach Regionen.
Betrachten wir die persönliche Einkommenssituation: Bei einer Mehrheit der befragten VLSS-Mitglieder (52%) hat sich das Einkommen in den letzten Jahren nicht verändert (2016: 56%). Fast ein Drittel der Kaderärzteschaft (31%) musste Einbussen in Kauf nehmen, eine Verschlechterung von 7 Prozentpunkten gegenüber der letzten Erhebung 2016. Bei 17 Prozent der Kaderärztinnen und -ärzte hat sich die Einkommenssituation verbessert (2016: 20%). Geschlechterspezifische Unterschiede lassen sich keine feststellen.

Variable Einkommensbestandteile ­nehmen zu

Die Spitäler vollzogen in den letzten Jahren einen Stra­tegiewechsel bei den Anstellungsbedingungen. Diese ­Beobachtung stützt sich auf die vereinsinterne Rechtsberatung, welche Kaderärztinnen und -ärzte bei Vertragsverhandlungen begleitet. In den letzten Jahren wurden meistens Arbeitsverträge mit ganz neuen, vom Bisherigen abweichenden Anstellungsbedingungen vorgelegt. Die sogenannte privatärztliche Tätigkeit (Einnahmen aus Honoraren zusatzversicherter Spitalpatientinnen und -patienten sowie Einkünfte aus privater am­bulanter Sprechstundentätigkeit) wurde und wird immer mehr abgeschafft. Kaderärztinnen und -ärzte müssen stattdessen heute vermehrt Jahresziele erreichen, um in den Genuss von variablen Lohnbestandteilen zu gelangen. Die jüngste Befragung untermauert diese Entwicklung. 2003 bestand noch rund die Hälfte des Einkommens aus variablen Bestandteilen bzw. aus Honoraren und Einkünften aus privater Sprechstundentätigkeit. 2016 machten Honorare aus privatärztlichen Tätigkeiten bzw. ergebnisabhängige oder von einer Zielerreichung abhängige «Boni» dagegen nur noch 10 bis 20 Prozent des Gesamteinkommens aus. In den letzten drei Jahren stiegen die variablen Bestandteile dagegen wieder an. Bei Chefarztlöhnen machen variable Bestandteile heute einen Drittel des Lohnes aus. Im gleichen Zeitraum wurden die Fixeinkommen reduziert. Dies ergibt sich zumindest aus den Durchschnittszahlen, auf welche wir hier abstellen müssen (siehe Grafik 3).
Grafik 3 : Fixlohn und variable Lohnanteile bei Chefärztinnen und Chefärzten sowie bei Leitenden Ärztinnen und Ärzten
Der VLSS beobachtet die Entwicklung kritisch. Wiederholt hat er sich – in Übereinstimmung mit der FMH – ablehnend zu Lohnmodellen geäussert, welche Kaderärztinnen und -ärzte direkt und in zu grossem Umfang am Spitalergebnis oder am Ergebnis ihrer Klinik beteiligen. Der VLSS spricht sich seit jeher dezidiert gegen zu hohe Boni, aber für die Aufrechterhaltung der privatärztlichen Tätigkeit aus, denn nur Letzteres stimmt mit einer besonderen persönlichen Dienstleistung an der (zusatzversicherten) Patientin oder am (zusatzversicherten) Patienten überein und stellt einen Mehrwert dar. Nur die Patientinnen und Patienten, welche den betreuenden Kaderarzt, die betreuende Kaderärztin selber wählen können, kommen auf jeden Fall in den Genuss einer ganz persönlichen Betreuung.

Gewandelte Arbeitsbedingungen

Der VLSS beobachtet einen Kulturwandel in den Verwaltungsräten und Spitaldirektionen. Die Kaderärzteschaft wird in ihren Entscheidungsbefugnissen zunehmend eingeschränkt. Setzen sich Kaderärztinnen und -ärzte gegen diese Vorgaben zur Wehr, drohen Konsequenzen. Darunter leiden die Arbeitsbedingungen. Es erstaunt nicht, dass bereits 47 Prozent aller Befragten verschlechterte Arbeitsbedingungen monieren (2016: 41%, siehe Grafik 4). Fast die Hälfte der befragten Kaderärztinnen und -ärzte (49%) erlebt die veränderten Strukturen als negativ. Neue Organisationsstrukturen (26%), höherer Administrationsaufwand (26%) sowie Spitalleitungen (23%) werden als Ursachen für die Verschlechterung ausgemacht.
Grafik 4: Arbeitsbedingungen bei Kaderärztinnen und -ärzten.
Schweizer Spitäler scheinen flächendeckend nach ­betriebswirtschaftlichen Konzepten umgestaltet zu ­werden. Letzteres scheint auf einer konkludenten politischen Zielsetzung zu beruhen, wonach aus Kaderärztinnen und -ärzten «normale Angestellte» werden sollen. Dies allerdings bei unveränderter Erwartung, was die ausserordentliche Belastbarkeit und die oft ex­tre­me Arbeitsleistung anbelangt. Diese Rechnung wird wohl kaum aufgehen.
Für den VLSS steht fest: Kaderärztinnen und -ärzte bauen sich über Jahre ein dichtes Netzwerk von Spezialisten, Grundversorgern, Pflegenden sowie weiteren, nichtärztlichen Stellen auf. Die medizinische Qualität des Spitals ist vielfach eng mit dem Namen der Kaderärztinnen und -ärzte verbunden. Spitaldirektionen müssen ein organisatorisches Gleichgewicht herstellen. Sie müssen die Hierachie, die für den guten Betrieb eines Spitals unverzichtbar ist, mit der klinischen Autonomie der leitenden Ärzteschaft in Einklang bringen. Gelingt dies nicht, drohen Abgänge von hoch quali­fizierten Kaderärztinnen und -ärzten. Und diese lassen sich aufgrund des vorherrschenden Fachkräftemangels nicht so leicht ersetzen. Medizinische Qualitätsverluste sind die Folgen.

Ausbildungen in Führung und Management besser verbreitet

52 Prozent der Befragten haben eine Ausbildung in Führung und Management absolviert (2016: 48%). Weitere 6 Prozent planen eine entsprechende Ausbildung. Die Entwicklung zeigt in die richtige Richtung. Damit die Kaderärzteschaft dem Spitalmanagement auf Augenhöhe begegnen kann, braucht sie heute betriebswirtschaftliches Fachwissen. Eine Mehrheit verfügt inzwischen über das nötige Rüstzeug, um sich in der operativen Geschäftsleitung des Spitals wirksam einzubringen oder dem Verwaltungsrat als kompetenter Partner in strategischen Fragen zu dienen. Spitalleitungen sind gut beraten, diese­s unternehmensinterne Wissen abzurufen und die Kaderärzteschaft bei wichtigen strategischen Entscheiden anzuhören. Zentrale Voraussetzung für den langfristigen Erfolg eines Spitals sind folglich betriebswirtschaftliche Strategien der Direktionen, welche sich mit den Visionen der Kaderärzteschaft decken. Dementsprechend wird es doch nicht funktionieren, aus Kaderärztinnen und -ärzten ohne Qualitätsverlust für das schweizerische Gesundheits­wesen «normale Angestellte» zu machen.

Berufliche Zukunft ausserhalb der Spitäler

Setzen Spitalleitungen auf neue Organisationsstrukturen, die bewährte Versorgungspfade zerschlagen, und nimmt der Administrationsaufwand weiter zu, drohen freiwillige Abgänge von Kaderärztinnen und -ärzten. Wie vor drei Jahren erwägt heute jedes vierte VLSS-Mitglied (23%) kurz- bis mittelfristig einen Stellenwechsel. Für die stationäre Versorgung besonders alarmierend: 6 von 10 Wechselwilligen streben eine Tätigkeit ausserhalb des Spitals an. Neben Gründen wie Pensionierung geben viele Befragte an, in die Arztpraxis wechseln zu wollen (22%; 2016: 28%). Weniger attraktiv erscheint die Verwaltung. Gerade mal 3 Prozent sehen ihre berufliche Zukunft in der Administration (2016: 7%).
Die Resultate der jüngsten Mitgliederbefragung des VLSS machen deutlich: Spitäler müssen die allgemeinen Arbeitsbedingungen der Kaderärztinnen und -ärzte verbessern. Noch immer sind von 100 Kaderärztinnen und -ärzten 25 in ihrem Beruf unzufrieden. Eine zu hohe Zahl. Vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen kann es sich die Schweiz kaum leisten, wenn hoch qualifiziertes Fachpersonal in verwandte, weniger anspruchsvolle Berufe abwandert. Unmotivierte oder frustrierte Kaderärztinnen und -ärzte entwickeln keine Visionen und bringen sich auch nicht mehr persönlich ein. Sie beschränken sich auf die rein ärztliche Tätigkeit. Damit haben sie sich geistig bereits aus der Spitalwelt verabschiedet. Die Gefahr einer sich beschleunigenden Abwanderung muss ernst genommen werden. Leider ist diese Tatsache bisher weder in den Verwaltungsräten, in den Geschäftsleitungen noch bei den meisten CEO unserer Spitäler angekommen.

Das Wichtigste in Kürze

• Der Verein der Leitenden Spitalärzte der Schweiz (VLSS) interessiert sich für die Arbeitsverhältnisse der Chefärztinnen und -ärzte sowie der Leitenden Spitalärztinnen und -ärzte und führt deshalb regelmässig Befragungen durch.
• Im Jahr 2019 hat der VLSS seine Befragung zum dritten Mal wiederholt.
• Insgesamt 318 Personen nahmen an der Umfrage teil, was einer Rücklaufquote von 32,4 Prozent entspricht.
• Einige Ergebnisse im Überblick
Während die Chefärztinnen und Chefärzte in den letzten drei Jahren wieder leicht mehr verdienten, sanken die Einkommen der Leitenden Kaderärztinnen und -ärzte leicht auf das Niveau von 2002.
Werden die Einkommen der Kaderärztinnen und -ärzte nach Regionen unterteilt, zeigen sich unterschiedliche Entwicklungsmuster.
Bei Chefarztlöhnen machen variable Bestandteile heute einen Drittel des Lohnes aus, die Fixeinkommen wurden reduziert.
47 Prozent aller Befragten monieren verschlechterte ­Arbeits­-
bedingungen.
Verein der Leitenden Spitalärzte der Schweiz | VLSS
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info[at]vlss.ch
1 vgl. Schweiz Ärzteztg. 2004;85(51–52):2754ff.
2 vgl. VLSS info 1 2020: www.vlss.ch
3 vgl. NZZ vom 23. Juni 2020, S. 11.