Neue Versorgung mit Zwangsberatung und staatlichem Kostendeckel?

FMH
Ausgabe
2020/37
DOI:
https://doi.org/10.4414/saez.2020.19200
Schweiz Ärzteztg. 2020;101(37):1103

Affiliations
Dr. med., Präsident der FMH

Publiziert am 08.09.2020

Als Bundesrat Berset am 19. August sein zweites Kostendämpfungspaket präsentierte, stand vor allem eine staatlich vorgeschriebene Erstberatung im Zentrum der Aufmerksamkeit, die beurteilen soll, ob eine Untersuchung oder Behandlung notwendig ist. Die Re­sonanz war gross, der vorgeschlagenen Abschaffung der freien Arztwahl wurden schlechte Chancen bescheinigt. Tatsächlich scheint das Modell der «Erstberatungsstellen» für das Stimmvolk kaum annehmbar: So wäre jeder Versicherte nicht nur gezwungen, eine solche Stelle zu wählen – oder die Vorgabe seiner Versiche­rung zu akzeptieren. Er könnte diese «Erst­beratungsstelle» auch nur unter den vom Bundesrat ­fest­gelegten Bedingungen wechseln (Art. 40 a). Die Erstberatungsstelle unterläge zudem einem Staats­tarif: Jede erstberatende Fachperson bekäme für die ihr zur Beratung zugeordneten Patienten eine vom Bundesrat festgelegte Pauschale – unabhängig davon, ob der Patient Beratung erhält oder nicht. Wer also bevorzugt gesunde Patienten aufnimmt und Behandlungen vermeidet oder kurzhält, würde in diesem neuen ­Modell gut leben. Für kranke Menschen könnte dies ­jedoch heissen, dass sie grössere Mühe hätten, einen Arzt zu finden – oder diesen zu wechseln, wenn sie sich nicht gut betreut fühlen.
All dies hat nichts mit den alternativen Versicherungsmodellen zu tun, die 70% der Schweizer heute freiwillig wählen. Die Freiwilligkeit ist dabei zentral: Ist ein Versicherter unzufrieden, kann er einen anderen Arzt oder ein konkurrierendes Modell wählen. Selbst wenn die gesamte Bevölkerung freiwillig im Hausarztmodell versichert wäre, wäre eine staatliche Zwangsregelung abzulehnen, denn mit der Freiwilligkeit und Konkurrenz der Modelle ginge auch die Qualität verloren.
Auch die neu geplanten Kostenziele würden unsere Gesundheitsversorgung verschlechtern. Wäre Artikel 54 des Vernehmlassungsentwurfs bereits in Kraft, müsste der Bundesrat noch 2020 mitteilen, wie viel die prämienfinanzierte Gesundheitsversorgung im Jahr 2022 kosten darf – insgesamt sowie differenziert für Leistungsblöcke und je Kanton. Seien es die Medikamentenkosten im Kanton Zug, die ambulanten Arzt­behandlungen im Kanton Waadt oder die Spitäler im Tessin – mit den vom Bundesrat vorgegebenen Zielen wären zukünftig die «richtigen» Kosten bekannt, lange bevor die Patienten zum Arzt oder ins Spital gehen. Die wirtschaftliche Entwicklung, Demographie, Morbidität und den medizinisch-technischen Fortschritt des Jahres 2022 würde der Bundesrat laut Gesetz in den «Kostenzielen» bereits berücksichtigen: Ein ambitionierter Plan, sind dies doch Faktoren, deren Einfluss auf die Kostenentwicklung oft sogar im Nachhinein schwer zu quantifizieren ist.
Neu würde also ein entsprechend vergrössertes BAG umfangreiche Kostenprognosen erstellen und neue gesetzlich geforderte Überprüfungen durchführen. Auch die Kantone müssten einiges in ihre Verwal­tungen investieren, um auf Basis der bundesrätlichen ­Vorgaben eigene Kostengrenzen zu spezifizieren, Anhörungen durchzuführen und dem BAG ihre Zielerreichung zur Prüfung einzureichen. Doch ein teurer Verwaltungsausbau wäre nur eine der Auswirkungen des staatlichen Globalbudgets: Wirklich kritisch wird es dann, wenn die Patienten mehr Behandlungen benötigen, als es Bundesrat und Bundesverwaltung lange vorab fixiert haben. Durch die für diesen Fall vorge­sehenen Tarifsenkungen würde der Gesundheitsversorgung Geld entzogen – und unzureichend vergütete Behandlungen würden nicht mehr ausreichend durchgeführt: Sinkende Behandlungsqualität und wachsende Wartelisten wären die Folge. Die Leistungen, auf die ein OKP-Versicherter durch Gesetz und seine Prämien eigentlich weiterhin Anspruch hat, würden damit faktisch rationiert. Wo sich die medizinische Versorgung politischen Planvorgaben unterordnen muss, gerät der Patient ins Hintertreffen.